Jede Muschel hat zwei Schalen

Die facettenreichste Tierklasse der Meere

Von Beginn an gehörten Muscheln zu den begehrtesten Sammelobjekten. Sei es wegen der in ihnen mit Glück zu findenden Perlen, dem Glitter des Perlmutts oder nur der Schönheit und Farbenprächtigkeit ihrer Schalen. Und welches Kind wurde nicht von der leidenschaftlichen Sammlerfreude gepackt, all die verschiedenen, glitzernden, bunten Schalen des Strandes aufzulesen.

Doch schon hier – und dies zieht sich durch Aeren historischer und kultureller Dimensionen – beginnt die große Konfusion: Was ist eine Muschel, was ist eine Schnecke?

Bereits der lateinische Name der Muscheln enthüllt uns des Rätsels Lösung, die ihnen allen gemeine Eigenschaft: Bivalvia – die Zweischalige. Und schon erkennen wir leidvoll, daß all den in Mühseligkeit geklaubten Muschel-schalen ein wesentlicher Teil fehlt – die zweite Hälfte. Schnecken hingegen, und das grenzt sie optisch wie wissenschaftlich von den Muscheln ab, besitzen nur eine Schale, die sich bei den höheren Schnecken als mehr oder minder gewundenes Gehäuse zeigt.

Muscheln sind eine eher urtümliche Tiergruppe. Schon seit Millionen von Jahren bevölkern sie die Gewässer unseres Planeten. Versteinerungen, auch in den Alpen, die einmal zum Urmeer Thetys gehörten, zeigen, daß sie ihre Form in all der Zeit nicht sehr verändert haben. Wenngleich sie auch nie dem Wasser entspringen konnten, gibt es doch kaum eine andere Tierklasse, die sich in ähnlicher Arten- und Formenvielfalt in so vielen verschiedenen Lebensräumen unserer Meere etablieren konnte.

Am auffälligsten sind die großen Muschelbänke. Etwa die der Austern. Oder der Miesmuschel Mytilus edulis, die sich in rheinischer Muschelsuppe großer Beliebtheit erfreut. In riesigen Mengen sitzt sie, dicht gedrängt, auf Felsen im Wattbereich der europäischen Atlantikküste, derweil anderen Geschöpfen wie Krebsen, Würmern und Schnecken ein eigenes Biotop bietend. Wie in Stein gehauen trotzt sie der stürmisch heranbrausenden See, übersteht nicht nur das Trockenfallen während der Ebbe, vielmehr auch das gierige Zerren der Möwen und Krabben, die die Miesmuschel auch ohne rheinische Zubereitung schätzen.

Dabei begann ihr Leben so grazil. Wie bei allen Muscheln entwickelten sich aus Abermillionen ins freie Wasser entlassener Eier nach wenigen Tagen mikroskopisch kleine, durchscheinend zarte Larven, die Veliger. Von pflanzlichem Plankton lebend und heranwachsend, vollziehen sie bald eine Umwandlung in eine kleine Muschellarve, die unter dem Mikroskop bereits die zwei typischen Schalen erkennen läßt. Verdriftet durch die Strömungen des Ozeans treffen sie irgendwann auf ein geeignetes Hartsubstrat, welches sie als ihre zukünftige Heimat erwählen. Sofort beginnen sie, mittels einer Drüse am Fuße einen klebrigen Schleim auszusondern, der sich in langen Haftfäden, den Byssus, verfestigt und die kleinen Muscheln fest mit dem Fels verbindet. Für den Rest ihres Lebens haben sie ihren Standort gewählt. Nun können sie nur noch fressen, wachsen und neue Eier produzieren.

Doch dann gibt es da auch die Versteckten. Wie die Sandklaffmuschel (Mya arenaria). Tief im Schlick des Watts verbringen sie ihr verborgenes Leben, fünfzehn bis dreißig Zentimeter tief. Der unkundige Wattwanderer wird sie dort ebensowenig aufstöbern wie die hungrigen Krabben, die bei Ebbe alles auf dem Wattboden aufpicken, was ihnen irgendwie verwertbar erscheint. Doch bei genauem Hinsehen finden sich kleine, napfartige Vertiefungen. Durch sie schickt die Muschel zwei, oft miteinander verwachsene, Röhren, den Siphon. Gleichsam ein Ansaug- und ein Abwasserrohr, versorgt der Siphon das tief im Sediment sitzende Tier mit frischem Wasser, aus dem es sich mit Sauerstoff und Nahrung versorgt.

Auch die Mutigen gibt es. Sie sitzen frei auf dem Sand oder zwischen Korallen, Anemonen und Schwämmen gebettet. Allerdings bedarf es bei der Größe der Riesenmuschel Tridacna gigas von bis zu fast zwei Metern kaum großen Mutes, sich so freimütig zu zeigen. In manchen Gegenden werden die Schalen der bis zu fünf Zentner schweren Muscheln sogar als Taufbecken benutzt. Diese in der Südsee, dem Indischen Ozean und dem Roten Meer beheimatete Art ist unter Tauchern als Mördermuschel bekannt, erzählen doch Sagen, sie würden auch Menschen verspeisen. Den Sagen auf den Grund zu gehen, führte Hans Hass 1953 ein einfaches Experiment durch: Mit einem in Gips gegossenen Bein einer Schaufensterpuppe näherte er sich einer etwa einen Meter großen Tridacna. In der Tat klappte diese sofort ihre Schalen zusammen, als das Bein sie berührte; kaum mit einer Brechstange zu öffnen. Es gab erst eine Chance, das Bein herauszuziehen, nachdem die überaus starken Schließmuskeln der Muschel mit einem Messer durch-trennt waren; das Gipsbein war in keinem guten Zustand. So mag es schon sein, daß ein unachtsames Taucherbein sich in einer Riesenmuschel verfängt und der Taucher, hat er nicht ein großes Messer, dort gefangen ist, bis sein Luftvorrat zu Ende geht.

Die Schiffbohrwürmer – natürlich keine Würmer, sondern vielmehr Muscheln – der Gattung Teredo, das sind die Hinterlistigen. Schon in früher Zeit erhielt diese Art den Beinamen Calamitas navium – Verderben der Schiffe. Ihre Schalen sind bis auf einen kleinen, mit scharfen Zähnen bewehrten, helmartigen Rest am Vorderende des wurmartigen Körpers reduziert. Mit diesem schaben sie in unaufhörlicher Wonne im Holz und graben tiefe Gänge, in denen sie ihr ganzes Leben verbringen; die Verbindung zur Außenwelt halten sie nurmehr mit ihren Siphonen, mit denen sie auch ihr aus dem geschabten Holz bestehendes Menü durch frisches Plankton bereichern, quasi die Gemüseration. Der bis zu zwanzig Zentimeter lange Schiffbohrwurm stammt ursprünglich aus Ostasien, nutzte aber seit Jahrhunderten Schiffspassagen über alle Weltmeere – vor allem zum Leidwesen der Eigner früherer Holzschiffe. Seit den späten achtziger Jahren ist Teredo auch in der Nordsee heimisch, und in der Ostsee verzeichnen die Forscher eine rasche Zunahme seit 1993. Insbesondere die Küsten Mecklenburg-Vorpommerns scheinen Teredo besonders zu gefallen, er hat eine Vorliebe für die dort aus weichem Nadelholz gefertigten Hafenanlagen und Anleger. Der durch seine Bohraktivitäten entstandene Millionenschaden ist dort von den Behörden genauso ungeliebt wie Teredos jüngster Appetit auf ein vor der Insel Hiddensee entdecktes Wrack einer Kogge von 1325.

Doch die Hinterlistigen sind auch fürsorglich. Eine einzelne Muschel bringt im Laufe eines Jahres bis zu fünf Millionen Eier hervor. Anstatt sich der lästigen Nachkommenschaft wie andere Muschelarten direkt zu entledigen, ist es den Teredo-Larven erlaubt, sich im Kiemenraum der Mutter zu entwickeln, bis sie ausschwärmen und sich ihr eigenes Stückchen Bohrholz erobern.


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Samuel J. Adams

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