Japans verlorene Kinder

1977 entführten nordkoreanische Agenten eine 13-jährige Japanerin am Strand ihres Wohnorts. Sie ist eine von 13 nach Nordkorea Verschleppten, die dem Geheimdienst des Regimes dienen sollten


Diese Geschichte hat kein Ende. Sie ist voller Widersprüche und handelt von zwei Menschen, die nicht aufgeben wollen. Sakie und Shigeru Yokota sitzen in ihrer beengten Wohnung in Kawasaki, einem Vorort von Tokio, müde vom jahrzehntelangen Kampf. Die Haare von Vater Shigeru sind schneeweiß, Tränensäcke sitzen unter den Augen von Mutter Sakie. Sie spricht langsam, Traurigkeit liegt in ihrer Stimme: „Früher waren wir eine ganz normale Familie.“ Bis zum 15. November 1977.

Das ist der Anfang der Geschichte. Vor 33 Jahren verschwand ihre Tochter Megumi Yokota, ein Mädchen aus Niigata in Japan, auf dem Weg vom Sportunterricht nach Hause. Sie wurde von Agenten des nordkoreanischen Geheimdiensts entführt, so viel steht fest. Diktator Kim Jong Il hat die Entführung mittlerweile zugegeben. Doch wo ist Megumi heute? Führt sie ein Leben als Nordkoreanerin, streng bewacht von Kims Geheimpolizei? Oder ist sie längst tot, wie die Behörden in Pjöngjang behaupten?

Sakie und Shigeru Yokota geben keine Ruhe, sie wollen Gewissheit. Unermüdlich treten sie im Fernsehen auf, geben Journalisten aus aller Welt Interviews, verteilen Flugblätter, um auf das Schicksal ihrer Tochter aufmerksam zu machen. Sie sprachen mit dem japanischen Premierminister, baten ihn, ihr Mädchen, wenn es denn noch am Leben ist, aus Nordkorea herauszuholen. 2006 gab es sogar einen Termin bei US-Präsident George W. Bush im Weißen Haus. Die Geschichte habe ihm „das Herz gebrochen“, sagte der Präsident hinterher. Seine Worte taten gut, brachten Megumi aber nicht zurück.

Auf der Kommode im Wohnzimmer haben Sakie und Shigeru alte Fotos aufgestellt, Fotos ihrer Tochter in Schuluniform, im Kimono, im Kreis der Familie. Megumi Yokota, 13 Jahre alt, ein freundliches Mädchen mit Pausbäckchen und schmalen, braunen Augen, Solistin im Schulchor, gut in Sport. Ein ganz normaler Teenager.

Der 15. November 1977 ist ein Dienstag. Megumi hat nach einem langen Schultag noch Badmintontraining. Draußen ist es bereits dunkel. Zu Hause kocht Mutter Sakie Eintopf. Sohn Takuya übt Geige, sein Zwillingsbruder Tetsuya schaut fern. „Es war schon spät, und Megumi war immer noch nicht zu Hause. Da fing ich an, mir Sorgen zu machen“, erzählt Sakie.

Sakie beschließt, zur Schule zu laufen. Es sind nur wenige Minuten zu Fuß dorthin. Als sie Licht in der Turnhalle sieht, ist sie erleichtert. Das Training dauert wohl etwas länger als gewöhnlich, denkt sie. Doch sie täuscht sich. Drinnen spielt keiner mehr Badminton. Megumi und die anderen Mädchen sind längst weg.

Panisch rennt sie zurück und telefoniert mit ihrem Mann Shigeru, der in einer Bank arbeitet und gerade bei einem Empfang ist. Sie sagt: „Bitte komm sofort nach Hause!“ Zusammen suchen sie mit Taschenlampen die Straßen im Viertel ab. Sie rufen nach Megumi. Niemand antwortet. Sie benachrichtigen die Polizei. Die gibt eine Fahndung heraus, setzt Spürhunde ein, ohne Erfolg. „Wir ahnten nicht, dass dies der Anfang von etwas Gewaltigem sein würde“, sagt Shigeru.

Nach einer Woche geht die Polizei mit ihrer Suche an die Öffentlichkeit. Das Fernsehen zeigt Bilder von fliegenden Hubschraubern, uniformierten Beamten am Ufer, Schiffen, die die Küste absuchen. Niigata, wo die Yokotas leben, ist eine Hafenstadt und liegt am Japanischen Meer. Die Lokalzeitung bringt einen Artikel über das vermisste Mädchen, Fernsehreporter berichten live vor Ort.

Die Polizei glaubt an ein Gewaltverbrechen. Möglicherweise sei sie verschleppt und vergewaltigt worden, sagen die Beamten. Vielleicht wolle der Entführer ein Lösegeld erpressen. Jeden Tag läuft Vater Shigeru den Strand ab und hofft, dass etwas angespült wird. Irgendetwas, das einen Hinweis auf die Tat gibt.

Ist Megumi vielleicht abgehauen? „Ich fragte mich, ob ich sie enttäuscht hatte oder ob es etwas gab, was ich nicht über sie wusste“, sagt Sakie. 1979 tritt sie mit ihrem Mann im Fernsehen auf, bei Fuji TV. Es ist eine Sendung über Kinder, die von zu Hause weggelaufen sind. Sie ist den Tränen nahe, als sie in die Kamera spricht: „Bitte, wenn es dir gut geht, auch wenn es nur eine kurze Botschaft ist, ruf mich an oder schicke mir eine Postkarte.“

Etwa zur gleichen Zeit erhält Abe, ein junger Reporter der überregionalen „Sankei“-Zeitung, einen Anruf. Einer seiner Informanten ist am Apparat. „Er sagte mir, dass etwas Seltsames an der Küste des Japanischen Meeres vor sich gehe. Und zwar an der Küste, die in Richtung Koreanische Halbinsel weist. Ich hatte keine Vorstellung, was ,etwas Seltsames‘ bedeutete“, erinnert sich Abe.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 78. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 78

No. 78Februar / März 2010

Von Jan Keith

Als Halbjapaner verbrachte mare-Redakteur Jan Keith, geboren 1971, seine Ferien oft in Japan am Meer, auch 1977, als Megumi verschwand. „Ein mulmiges Gefühl“, sagt er.

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Vita Als Halbjapaner verbrachte mare-Redakteur Jan Keith, geboren 1971, seine Ferien oft in Japan am Meer, auch 1977, als Megumi verschwand. „Ein mulmiges Gefühl“, sagt er.
Person Von Jan Keith
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