Jangtse

Für Tibets Buddhisten ist der Fluss auch Wolke, Regen und Meer. Vor allem aber heiliges Buch. Sie lösen Worte in Wasser, drucken Verse auf Wellen und lassen den Jangtse erzählen. Vom Kreislauf des Lebens, von der Reise zum Ozean der Weisheit

Es gibt keinen Jangtse. Ein Fluss, der diesen Namen trägt, ist den meisten Chinesen unbekannt. Für sie ist er der Chang Jiang, der „Lange Fluss“, oder schlichtweg Jiang, „der Fluss“. Und „Jangtsekiang“? Laut einer chinesischen Quelle aus dem 19. Jahrhundert heißt das Wort „Sohn des Meeres“. Drichu nennen ihn die Tibeter, „Fluss des wilden Yaks“, weil sie glauben, er entspringe dem Mund einer Kuh. Oder einfach nur „Fluss des Himmels“.

Schwingt im Flusswind ein Lied. Klingt vom Himmel, der in  Wellen trinkt, von der Wolke, die den Regen bringt, von der Quelle, die im Meer beginnt. Wasser kommt von Wolken, Wasser geht zu Wolken. Und ewig auf und nieder wird es steigen.

Ein neuer Fluss entspringt. Schneeland ist Sohle des Himmels und Krone der Erde, Land der sprechenden Wasser und stummen Menschen. Was sie verschweigen, schicken sie dem Wind oder schreiben es den Flüssen. Wo immer Tinte aufs Wasser tropft, weiten sich Kreise eines stummen Schalls. Wo immer Betfahnen im Winde fächeln, tragen die Lüfte Wünsche weiter. Es kommt aus dem Fluss gemurmelt, aus den Wolken geatmet. Schneeland singt.

Hören kann dies Lied nur, wer erleuchtet ist. Jemand, dem mit allen Sinnen aufgegangen ist, was Buddhismus ist. Für Tibeter ist Hören einer von fünf Sinnen. Denken ist der sechste. Hören ist nicht frei von Denken. Es ist eingebunden in das Wechselspiel aller Sinne. Fragte man einen Tibeter, was Lyrik und was Logik ist, mag sein, er würde antworten: Beides sind zwei Standpunkte, so wie der Mensch eben auch zwei Beine hat. Der Einbeinige fällt um. Wer auf zweien verharrt, steht still. Aber wer den einen verlässt, um zum anderen zu gelangen, nähert sich Schritt für Schritt dem an, was Buddhismus ist.

Buddhismus ist Fluss. In Tibet entspringt nicht nur der längste Fluss Asiens und drittlängste der Welt, der Jangtse. Hier quellen auch der Mekong, der Gelbe Fluss, der Salween, der Brahmaputra, der Indus, der Ganges. Die Wasser hätten schon unterirdisch verlaufen müssen, um nicht in die Philosophie einzufließen.

 Buddhismus ist die Lehre vom Fluss

Die ganze Welt ist wie der Jangtse. Alles ist im Kreislauf. So wie dieser von der Quelle hin zum Meer und über Wolken und Regen zurück zur Quelle wandert, sind alle Wesen der Welt im steten Wechsel begriffen zwischen Erde und Himmel. Jeder stirbt, um wiedergeboren zu werden. Das Meer wandelt sich zur Wolke, der Regen zur Quelle, der Mensch zum Tier. So lautet das Dharma, die buddhistische Sicht der Dinge. Das ist es, wovon der Fluss erzählt.

Dharma meint aber auch den Weg aus dem Kreislauf heraus, Buddhas Lehre von Erlösung. Ebenfalls ein Wassergleichnis. Die Kunst, den Weg ins letzte aller Meere zu finden, einzugehen in einen Ozean, aus dem es keine Wiedergeburt mehr gibt. Nirwana. Ende aller Kreisläufe, Ende aller Flussläufe.

Sei Fluss und du findest den Weg zum Meer!

„Ein in den Strom Eintretender“ nennt sich ein Buddhist erster Stufe. Ein Vagabund. Ein Pilger. Ein Nomade. Quelle des Wissens, lehrte Buddha, ist persönliche Erfahrung. „Zieht aus und überzeugt euch selbst.“ Dann erst entspringt und schwillt Erkenntnis, die in Erleuchtung münden kann. Es gibt ein Lied, das Tibets Nomaden summen, wenn sie weiterziehen. Von der Wiese, die wächst und Steppe wird. Vom Baum, der blüht und Wald wird. Vom Fluss, der Strom wird und Ozean.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 37. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Eine Betrachtung von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, seit September 2001 bei mare. Hat zuvor als Redakteur und Autor für Geo Saison gearbeitet. Studium der Germanistik, Geschichte und VWL in Freiburg, Kopenhagen und Berlin. Ausbildung auf der Deutschen Journalistenschule in München.

Mehr Informationen
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, seit September 2001 bei mare. Hat zuvor als Redakteur und Autor für Geo Saison gearbeitet. Studium der Germanistik, Geschichte und VWL in Freiburg, Kopenhagen und Berlin. Ausbildung auf der Deutschen Journalistenschule in München.
Person Eine Betrachtung von Dimitri Ladischensky
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, seit September 2001 bei mare. Hat zuvor als Redakteur und Autor für Geo Saison gearbeitet. Studium der Germanistik, Geschichte und VWL in Freiburg, Kopenhagen und Berlin. Ausbildung auf der Deutschen Journalistenschule in München.
Person Eine Betrachtung von Dimitri Ladischensky