„It’s only a short way to the pool deck if you wanna rock ’n’ roll“

Alljährlich legt in Florida ein Luxusdampfer zu einer etwas anderen Kreuzfahrt ab. An Bord sind ein Dutzend Heavy-­Metal-Bands. Ihre Fans zahlen nicht nur für die Musik, sondern auch für das eigentlich unbezahlbare Gefühl, noch einmal jung zu sein

Es ist gemeinhin ein erhabener Moment, wenn ein Passagierschiff aus dem Hafen läuft. Die Leinen los, das Ufer schwindet, in die Ferne schweift der Blick, die Hoffnung. Der Mensch an Bord kann sich dem schwer entziehen, auch wenn er nur kurz Urlaub macht, bei einer Kreuzfahrt, fünf Tage, westliche Karibik, Jamaika, Grand Cayman und das blaue Meer.

„Poesia“ heißt das Schiff, das klingt verträumt und italienisch; dort, wo es ablegt, quert eine sechsspurige Straße das Wasser, am Ufer Hotelkästen in Beton gegossen, ein paar Palmen, das Passagierterminal wie eine Verladestation: Fort Lauderdale, auf Wiedersehen.

Ein älteres Paar lehnt an der Reling auf dem zweiten Oberdeck, entspannt, zufrieden, die Haltung sagt: Wir haben es verdient. Gleich neben ihnen hängt ein kleiner Lautsprecher, Musik fürs Gemüt schafft unvergessliche Momente, wer Ferienglück auf See verkauft, weiß um den klingenden Wiedererkennungswert. Man bleibt italienisch und elegisch, das Schiff bewegt sich, Andrea Bocelli singt „Con te partirò – Time to say goodbye“. Doch das Glück, die Seufzer, sie währen nur ein paar Sekunden, ein tragischer Irrtum, dann hebt es die Herrschaften an der Reling aus den Schuhen.

„ARE YOU READY TO ROCK ’N’ ROLL????!!!!“ Ein markerschütternder Schrei, ein Gitarrenakkord von der Gewalt eines Schwertransports, ein Donnerschlag auf die Basstrommel, das Wasser im Pool zittert. Hinter dem Rücken der Ahnungslosen, ein Deck tiefer, spielt die Musik. Kleine Mosaiksteine in frischen Blautönen formen Wellen als Bühnenhintergrund wie bei einem Kurtheater, davor türmen sich rechts und links mannshoch die Verstärker, zwischen ihnen toben fünf Männer. Schwarze T-Shirts, enge Hosen, dünne Beine, die Arme großflächig und farbenfroh tätowiert, ganz vorne am Mikrofon schüttelt einer lange blonde Haare und grölt mit finsterer, vernarbter Miene: „WE ARE BROKEN TEETH AND WE ARE HERE TO ROCK THE HELL OUT OF THIS BOAT!!! SO RISE UP THAT BUDWEISER AND SAY YEAH!!!!“

Auf den Liegestühlen und an den Bars des „Coral Bay Pool Deck“, inmitten von Kunstpalmen und runden Stehlampen, in der türkisfarbenen Ausstattung eines mediterranen Ferientraums für US-amerikanische Mittelschichtsurlauber, liegen und lungern Menschen in schwarzen T-Shirts, sie recken ihre großflächig und farbenfroh tätowierten Arme in die Luft, Bierflaschen in der Hand, der Ton des Schiffshorns geht unter in ihrer lautstarken Antwort: „YEEEEAAAAHHHH!“

Ein Deck höher steht Linda, 57-jährige Immobilienmaklerin aus Michigan, mit ihrem Mann Gerry, sie hält einen Cocktailbecher in der Hand, ein wenig zu fest der Griff, ihre Knöchel werden weiß dabei. „Die fünf Tage hier, das ist mein Jahresurlaub. Ich arbeite hart. Ich brauche Entspannung. Hätte ich das gewusst, ich hätte niemals diese Kreuzfahrt gebucht. Aber das Reisebüro hat mir nichts erzählt.“ Und außerdem: „Ich bin mit Woodstock groß geworden, ich mag Crosby, Stills, Nash and Young.“ Es ist dunkel geworden, die Lichter am Ufer werden kleiner, die „Poesia“ fährt in ein schwarzes Nichts. Am Pool brüllt der Mann ins Mikrofon: „THIS IS OUR LOVE SONG, HAHA! IT IS CALLED: ‚STICK IT IN‘!!!“ Dies ist erst der Anfang einer Geschichte, die nur am Rande von einem Missverständnis erzählt.

Wer richtig beraten war bei der Buchung seiner Reise, trägt seine Zuordnung mit einigem Stolz um den Hals. Einen Pass, wie ihn bei Rockkonzerten sonst nur die auf der anderen Seite bekommen, die Bands, die Crew, die Promoter, die Presse, die Backstage-Babes. Darauf gedruckt in allen vier Ecken Totenköpfe, in der Mitte ein Anker im Strahlenkranz und ein Logo aus dem Standardschriftsatz für Piratenfilme: SHIPROCKED – das Ticket für eine Pauschalreise mit perfekt abgestimmtem Kulturangebot. Die gelungene Eroberung einer nicht kreuzfahrtaffinen Zielgruppe. Alan Koenig, Inhaber der „Shiprocked LLC“, ein untersetzter Amerikaner mit freundlich-rundem Allerweltsgesicht, hat sich das Wortspiel schützen lassen und das Prinzip erdacht. Fünf Tage, zwölf Bands, „the ultimate Rock ’n’ Roll vacation with a backstage pass“; jeden Tag finden vier Konzerte statt: am Pool, in der rot geplüschten Baratmosphäre der „Pigalle Lounge“ und im feudal-violetten „Carlo Felice Theater“, wo die vermeintlichen Berühmtheiten des Programms den allabendlichen Höhepunkt an Lautstärke und gemeinschaftlichem Haareschütteln abliefern sollen.


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mare No. 82

No. 82Oktober / November 2010

Von Martina Wimmer und Bruce Gilden

Für mare-Redakteurin Martina Wimmer, Jahrgang 1965, war die „Shiprocked“-Reise ein seltsamer Ausflug in die eigene Vergangenheit. Sie hat ihre ersten Jahre als Journalistin bei einem Musikmagazin verbracht und war damals schon irritiert, dass die wenigsten Musiker zwischen Backstage-Püppchen und seriösen Fragestellerinnen unterscheiden wollten. Dass sie heute mit einem Gitarristen verheiratet ist, hat damit allerdings nichts zu tun.

Magnum-Fotograf Bruce Gilden, geboren 1946 in Brooklyn, New York, hat in seinem vielfach preisgekrönten Fotografenleben noch keine Herausforderung gescheut. Er hat Voodoorituale in Haiti fotografiert und Gangsterbosse in Japan. Mehrere Tage auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen war für ihn allerdings eine neue Erfahrung, die ihm gar nicht geheuer war, nicht nur, weil er privat keine Heavy-Metal-Musik hört. Er hat sich gegen seine eigenen Erwartungen mit allem und allen gut arrangiert. Erst kürzlich rief ihm auf den New Yorker Straßen eine Unbekannte nach: „Hey, du warst doch der verrückte Fotograf auf dem Schiff!“ Die nächste „Shiprocked“-Cruise führt vom 11. bis 14. November von Fort Lauderdale, Florida, über Coco Cay Bay und Nassau auf den Bahamas zurück nach Fort Lauderdale.

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Vita Für mare-Redakteurin Martina Wimmer, Jahrgang 1965, war die „Shiprocked“-Reise ein seltsamer Ausflug in die eigene Vergangenheit. Sie hat ihre ersten Jahre als Journalistin bei einem Musikmagazin verbracht und war damals schon irritiert, dass die wenigsten Musiker zwischen Backstage-Püppchen und seriösen Fragestellerinnen unterscheiden wollten. Dass sie heute mit einem Gitarristen verheiratet ist, hat damit allerdings nichts zu tun.

Magnum-Fotograf Bruce Gilden, geboren 1946 in Brooklyn, New York, hat in seinem vielfach preisgekrönten Fotografenleben noch keine Herausforderung gescheut. Er hat Voodoorituale in Haiti fotografiert und Gangsterbosse in Japan. Mehrere Tage auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen war für ihn allerdings eine neue Erfahrung, die ihm gar nicht geheuer war, nicht nur, weil er privat keine Heavy-Metal-Musik hört. Er hat sich gegen seine eigenen Erwartungen mit allem und allen gut arrangiert. Erst kürzlich rief ihm auf den New Yorker Straßen eine Unbekannte nach: „Hey, du warst doch der verrückte Fotograf auf dem Schiff!“ Die nächste „Shiprocked“-Cruise führt vom 11. bis 14. November von Fort Lauderdale, Florida, über Coco Cay Bay und Nassau auf den Bahamas zurück nach Fort Lauderdale.
Person Von Martina Wimmer und Bruce Gilden
Vita Für mare-Redakteurin Martina Wimmer, Jahrgang 1965, war die „Shiprocked“-Reise ein seltsamer Ausflug in die eigene Vergangenheit. Sie hat ihre ersten Jahre als Journalistin bei einem Musikmagazin verbracht und war damals schon irritiert, dass die wenigsten Musiker zwischen Backstage-Püppchen und seriösen Fragestellerinnen unterscheiden wollten. Dass sie heute mit einem Gitarristen verheiratet ist, hat damit allerdings nichts zu tun.

Magnum-Fotograf Bruce Gilden, geboren 1946 in Brooklyn, New York, hat in seinem vielfach preisgekrönten Fotografenleben noch keine Herausforderung gescheut. Er hat Voodoorituale in Haiti fotografiert und Gangsterbosse in Japan. Mehrere Tage auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen war für ihn allerdings eine neue Erfahrung, die ihm gar nicht geheuer war, nicht nur, weil er privat keine Heavy-Metal-Musik hört. Er hat sich gegen seine eigenen Erwartungen mit allem und allen gut arrangiert. Erst kürzlich rief ihm auf den New Yorker Straßen eine Unbekannte nach: „Hey, du warst doch der verrückte Fotograf auf dem Schiff!“ Die nächste „Shiprocked“-Cruise führt vom 11. bis 14. November von Fort Lauderdale, Florida, über Coco Cay Bay und Nassau auf den Bahamas zurück nach Fort Lauderdale.
Person Von Martina Wimmer und Bruce Gilden