Abends, sobald die Sonne nicht mehr wärmt, packen wir Strandurlauber hastig unsere Sachen zusammen und verlassen fluchtartig den Ort der Erholung. In der Eile bleibt schon einmal die Verpackung von dem leckeren Eis am Stiel liegen, die leere Colaflasche passt nicht mehr in die Badetasche, und die Plastiktüte hat’s so weit weggeweht – ist denn das überhaupt unsere? Bis alles miteinander im Meer landet, dauert es nicht mehr lange. Dort dümpelt schon weiterer Zivilisationsmüll, von den Strandnachbarn, von Schiffen, aus Fischerei und Industrie. Mit Wind und Strömung geht der Unrat dann auf die Reise.
Was als nächstes passiert, untersuchen Wissenschaftler erst seit wenigen Jahren genauer. Heerscharen von kleinsten Lebewesen kriechen, krabbeln, gleiten auf das treibende Plastik. Vor allem Moostierchen, Rankenfüßer (Seepocken, Entenmuscheln), Borstenwürmer, Polypen und Weichtierchen (Schnecken, Muscheln) siedeln sich auf den schwimmenden Abfällen an. Oft fahren sie Tausende von Kilometern mit, bevor sie an fremden Ufern angeschwemmt werden. Auf der manchmal mehrjährigen Odyssee wird der Müll zur künstlichen Insel, zum Lebensraum. Geburt, Fortpflanzung und Tod finden für ganze Generationen auf einer Plastikflasche aus Polyethylenterephthalat, kurz: PET, oder einem Brocken Styropor statt.
Meeresorganismen haben zwar immer schon natürliches Treibgut wie Holz und Vulkangestein als Mitfahrgelegenheit genutzt. Aber Plastik hat andere Eigenschaften. Plastik, Sammelbegriff für verschiedenste synthetische Werkstoffe, die seit rund 50 Jahren industriell hergestellt werden, schwimmt langsamer. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass viele Tierchen an Bord bleiben. Und es ist langlebiger, deshalb können sich manche Arten mit Hilfe der Plastikinseln weiter ausbreiten als je zuvor. Der Meeresbiologe David Barnes vom British Antarctic Survey schätzt, dass sich die Ausbreitung von Fauna mittels Plastikabfällen in den Subtropen verdoppelt und in Breitengraden über 50 Grad sogar mehr als verdreifacht hat.
Daher befürchten Wissenschaftler, dass Müll auf lange Sicht, zumindest in höheren Breitengraden, eine Gefahr für die Artenvielfalt darstellen könnte. David Barnes hält besonders die Tierwelt der Antarktis für bedroht. Anders als das Nordpolarmeer, wohin ständig Arten zuwandern, ist das Südpolarmeer seit über 25 Millionen Jahren durch den eisigen Zirkumpolarstrom isoliert. Daher lebt dort überwiegend einheimische Fauna. Und ebenso wie in anderen isolierten Weltgegenden mit hauptsächlich einheimischer Tierwelt – etwa auf den Galápagos-Inseln oder den Seychellen – gibt es viele Arten ausschließlich in dieser einen Region. Wenn eine solche endemische Art den Wettbewerb mit fremden Arten in der Antarktis verliert, ist sie weltweit verloren.
Noch werden fremde Arten von der Kältehürde abgehalten. Aber wenn die Klimamodelle zutreffen, nach denen sich das Südpolarmeer in den nächsten 100 Jahren um zwei Grad erwärmt, steht der Invasion der Plastikpassagiere in die Antarktis nichts mehr im Weg.
Vita | Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).
Illustration: Frank Nikol |
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Person | Von Judith Reker |
Vita | Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).
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