„In unserer Familie gibt es keine Verräter“

Nisida, eine kleine Insel im Golf von Neapel, beherbergt das ­Jugendgefängnis der Mittelmeermetropole. Hier sollen die jungen Straftäter auf ein Leben außerhalb der Krimina­lität und ohne Einfluss der Camorra vorbereitet werden

Hier wird alles überwacht. Kameras an den Mauern, Sensoren in der Erde und Satelliten in der Luft belauern aber nicht das Jugendgefängnis von Neapel, sondern den Supervulkan an der westlichen Seite von Neapel. Das Jugendgefängnis auf dem Inselchen Nisida im Golf von Neapel liegt auf einem ehemaligen Vulkankrater, der wie ein Halbmond aus dem Meer steigt und sich wie ein natürlicher Swimmingpool zum Golf von Neapel öffnet. Vom Belvedere hat man einen atemberaubenden Blick auf Ischia, Procida und Capri. Das Panorama ist so weit, dass zwei Augen nicht reichen, um alles auf einmal zu erfassen, das Meer glitzert wie mit Pailletten bestreut, und der Himmel sieht beim Sonnenuntergang aus, als hätte jemand ein Streichholz darangehalten. 

Wären da nicht die Überwachungs­kameras, das meterhohe Stahlportal und die Gitterstäbe vor den Fenstern, man könnte sich im Paradies wähnen. 

Mittendrin stehen ein paar junge Männer, um die man im Dunkeln auf der Straße einen Bogen machen würde. Kein Zufall, sondern Absicht: Tattoos kriechen ihnen ins Gesicht, die Augenbrauen sind gepierct, die Baggy Pants sitzen tief auf den Hüften, die Basecaps sind ordnungsgemäß seitlich verrutscht, die Schnür­senkel der Sneaker (rigoros Nike, Reebok, Adidas, Air Jordan oder Timberland) offen, und die Sonnenbrillen werden selbst in der Nacht nicht abgenommen. Im Grunde sehen sie aus wie alle coolen Jungs auf der Welt: fein gemacht für eine Hip-Hop-Party Gangsta Style. Mit dem Unterschied, dass hier vom Mord über Raubüberfall bis zum Drogenhandel alles versammelt ist, was das italienische Strafrecht hergibt. 

Und wie alle coolen Jungs drängeln sie sich so nah an einen heran, bis man ihren Atem spürt – um zu testen, ob man einen Schritt weicht. Weicht man nicht, ist das okay. Dann bekommt man beim Hofgang im Flutlicht des Basketballfelds auch ein paar praktische Tipps fürs Leben. Etwa, dass man sich die Fingerringe abnehmen soll, wenn man das nächste Mal in die Altstadt von Neapel geht. Oder dass man aus einem geklauten Motorrad selbstverständlich die Fahrgestellnummer fräst. Und dass nur Nulpen im Vorbei­fahren Handtaschen rauben. „Wollen Sie wissen, warum ich hier bin?“, fragt ein kleiner Dicker, und noch ehe man ihm antwortet, sagt er „wegen Mord“, kostet kurz das Erstaunen aus und fügt lachend hinzu: „Kleiner Scherz.“

Das Outfit ist ihr Zeichen der Zuge­hörigkeit, es vereint die 53 Jungs, die zur Zeit im Jugendgefängnis von Nisida leben, aber damit hört es auch schon auf mit den Gemeinsamkeiten. Die Hälfte von ihnen sind Nordafrikaner – Tunesier, Marokkaner, Algerier, die kein Italienisch sprechen und vor Kurzem aus den überfüllten nord­italienischen Jugendgefängnissen nach Neapel verlegt wurden. 

Was auf Nisida prompt eine Revolte auslöste. „Die Araber stinken“, sagt ein Neapolitaner. „Die Neapolitaner sind Rassis­ten“, sagt ein Nordafrikaner. Die einzigen Ausländer hier waren bislang rumänische Roma – die sich nach der Ankunft der Nordafrikaner mit den Neapolitanern solidarisierten und mit ihnen gegen die „Invasion“ protestierten. Vielleicht, weil sie erleichtert waren, in der Hackordnung nicht mehr ganz unten zu stehen. 

In Norditalien sitzen in den Jugend­gefängnissen fast nur Ausländer, nord­italienische Jugendliche sitzen ihre Strafe zwecks Resozialisierung hingegen meist in betreuten Wohngemeinschaften ab. Die norditalienischen Ju­gend­ge­fäng­nisse sind überfüllt, aber immerhin gibt es dort sogenannte „Kulturvermittler“, die Arabisch sprechen und auch Kontakt mit den Familien aufnehmen können. 


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mare No. 160

mare No. 160Oktober / November 2023

Von Petra Reski und Yarin Trotta del Vecchio

Petra Reski ist Journalistin und Schriftstellerin, lebt seit 1991 in Venedig und zählt Neapel zu ihren ­Lieblingsstädten. Die Jugendlichen von Nisida beeindruckten sie mit ihrer Lebenstüchtigkeit und die ­Erzieher mit ihrer Hingabe für ihre Jungs.

Yarin Trotta del Vecchio, Jahrgang 1991, ist freier Dokumentarfotograf in Rom. Er besuchte die Anstalt und die Insassen über einen Zeitraum von zwei ­Jahren, „um die Insel und die jungen Menschen ­besser zu verstehen“.

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Vita

Petra Reski ist Journalistin und Schriftstellerin, lebt seit 1991 in Venedig und zählt Neapel zu ihren ­Lieblingsstädten. Die Jugendlichen von Nisida beeindruckten sie mit ihrer Lebenstüchtigkeit und die ­Erzieher mit ihrer Hingabe für ihre Jungs.

Yarin Trotta del Vecchio, Jahrgang 1991, ist freier Dokumentarfotograf in Rom. Er besuchte die Anstalt und die Insassen über einen Zeitraum von zwei ­Jahren, „um die Insel und die jungen Menschen ­besser zu verstehen“.

Person Von Petra Reski und Yarin Trotta del Vecchio
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Petra Reski ist Journalistin und Schriftstellerin, lebt seit 1991 in Venedig und zählt Neapel zu ihren ­Lieblingsstädten. Die Jugendlichen von Nisida beeindruckten sie mit ihrer Lebenstüchtigkeit und die ­Erzieher mit ihrer Hingabe für ihre Jungs.

Yarin Trotta del Vecchio, Jahrgang 1991, ist freier Dokumentarfotograf in Rom. Er besuchte die Anstalt und die Insassen über einen Zeitraum von zwei ­Jahren, „um die Insel und die jungen Menschen ­besser zu verstehen“.

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