In den Wind geschrieben

Einmal im Jahr treffen sich Fischer aus dem eisigen Nord­pazifik in Astoria an der Küste Oregons zum „Fisher Poets Gathering“. Auf diesem Festival frönen die Männer und Frauen einer Herzensangelegenheit: Gedichte schreiben und sie einander vortragen

Er sei ein einsames Herz, sagt der Dichter und schaut auf seine maschinenölverschmierten Pranken, schon immer gewesen, er mag keine Menschenmengen. Seinen Händen hat er vor Jahren ein Gedicht gewidmet. These hands are beat, scarred and battered / not the most graceful ones you’ll see / But hell, I ain’t no picture / so I guess they fit the rest of me. Stunden vor dem größten Auftritt des Jahres sitzt David Densmore, genannt Dangerous Dave, 65 Jahre alt, in der Bordküche der „Cold Stream“ und dreht den Kaffeebecher in den Händen. Vom Anleger bellen heiser die Seelöwen. Der Mann hat ein kantiges Gesicht, zerfurcht, die Nase wie breitgeboxt, ein Blick, der Funken schlägt. Er ist Herr dreier Boote, kann nicht schwimmen und isst am liebsten Steak. Aber er würde nie etwas anderes tun wollen in seinem Leben als fischen. Im Sommer ist sein Heimathafen Larsen Bay, Alaska, den Rest des Jahres verbringt er in Astoria, Oregon, einem Hafenstädtchen mit hügeligen Straßen wie in San Francisco.

Die letzten Wintertage sind eine zähe Zeit für die Fischer entlang der amerikanischen Nordpazifikküste. Doch alljährlich am letzten Wochenende im Februar, zwischen dem Ende der Dungeness-Krebs-Saison und der Frühjahrswanderung der Königslachse, finden Dave und seine Kollegen ihre Erfüllung an Land. Sie treffen sich in Astoria zum „Fisher Poets Gathering“, dem Festival der Fischerpoeten. Die wohl einzige Dichterlesung der Welt, bei der zwischen zwei Auftritten auf der Bühne Jobangebote vermeldet werden wie dieses: „Tenderschiffbetreiber sucht Ingenieur für Kühlanlagen“.

Astoria, wo der Columbia River den Pazifik trifft, ist die älteste amerikanische Siedlung westlich der Rockies und verdankt der Fischindustrie eine glanzvolle Vergangenheit als Welthauptstadt der Konservenherstellung. Ihr einziger Anspruch auf kulturellen Ruhm bestand lange im Astoria Theater, wo ein 21-jähriger Clark Gable an einem Mittwochabend im Juli 1922 seine Schauspielkarriere begann. Im Dezember desselben Jahres brannte das Theater ab. Damals hatte Astoria 15 000 Einwohner, so viele wie nie zuvor und nie danach, ein betriebsames Sündenbabel von Stadt, das an eine Zukunft als New York am Pazifik glaubte. Vom weltmeerbekannten Rotlichtbezirk blieben nur der „Desdemona Club“ und „Annie’s Tavern“ mit ihren Tänzerinnen und von den 30 Konservenfabriken der 1940er Jahre nur die Tragpfähle, die aus dem Fluss ragen.

Das „Fisher Poets Gathering“ begann 1998, mit ein paar Leuten auf einer Bühne im „Wet Dog Café“ am Hafen. Jon Broderick, Englischlehrer und während der Lachssaison Kapitän eines Fischtrawlers mit seinen vier Söhnen als Crew, hatte sich vom „National Cowboy Poetry Gathering“ in Nevada inspirieren lassen. Broderick suchte dichtende Fischer und fand erste Kandidaten im „Alaska Fisherman’s Journal“, das zwischen Marktpreisen und Schiffsmeldungen schon seit Jahren Lyrikschnipsel veröffentlicht hatte, eingeschickt als Kritzeleien auf den Rückseiten von Fischdosenetiketten. Broderick legte seinem Poetentreffen strenge Regeln auf: Die Bühne entern darf nur, wer fischt oder wenigstens ein paar Sommer in einer Fabrik Thunfisch entschleimt hat.

Aus den Anfängen im „Wet Dog Café“ wuchs das „Fisher Poets Gathering“ zu einem veritablen Festival heran, mit Workshops und Diskussionsrunden. Rezitiert wird im „Astoria Event Center“, wo sonst Hochzeiten und Wrestlingkämpfe stattfinden, oder im „Voodoo Room“ mit seinen tätowierten Barkeepern und den perlengeschmückten Rinderschädeln an der Wand. Ein Dutzend Auftritte je Ort und Abend, man verpasse immer etwas, sagt Festivalgründer Jon Broderick, es sei wie beim Fischen, man könne sie nicht alle kriegen.

Mit Dangerous Dave Densmore hat die Veranstaltung so etwas wie einen Rockstar hervorgebracht, dem sein Ruhm einen Dokumentarfilmauftritt eintrug und ein Interview im landesweiten Frühstücksfernsehen. Dave wuchs als Missionarssohn auf den Aleuten auf, als Alaska noch Territorium war und nicht der 49. Staat der USA. Im Winter war die einzige Verbindung zur Außenwelt das Postboot, das einmal im Monat kam. Der Vater, ein Kirchenmann mit Vorleben, war Fischer gewesen und Cowboy, hatte auf Ölfeldern gearbeitet und in Minen, als Schmuggler von Selbstgebranntem und professioneller Kämpfer. Der Sohn ging lieber jagen als zur Schule. Dave war zwölf Jahre alt, als er auf einem Dock in Alaska über sein Erbe entschied. Er saß im Sonnenschein auf einem Haufen Netze, schaute seinem Vater beim Spleißen zu und wusste, dass er eines Tages selbst seinen Sohn das Spleißen lehren würde. Mit 13 besiegelte er per Handschlag den Kauf seines ersten eigenen Fischerboots.


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mare No. 102

No. 102Februar / März 2014

Von Constanze Kindel und Stephan Vanfleteren

Autorin Constanze Kindel, geboren 1979, mag wie Dave Densmore Gedichte, aber keinen Fisch. Fotograf Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, hatte Erfahrung mit harten Seemännern. Für mare No. 77 porträtierte er Fischer in seiner Heimat Belgien.

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Vita Autorin Constanze Kindel, geboren 1979, mag wie Dave Densmore Gedichte, aber keinen Fisch. Fotograf Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, hatte Erfahrung mit harten Seemännern. Für mare No. 77 porträtierte er Fischer in seiner Heimat Belgien.
Person Von Constanze Kindel und Stephan Vanfleteren
Vita Autorin Constanze Kindel, geboren 1979, mag wie Dave Densmore Gedichte, aber keinen Fisch. Fotograf Stephan Vanfleteren, Jahrgang 1969, hatte Erfahrung mit harten Seemännern. Für mare No. 77 porträtierte er Fischer in seiner Heimat Belgien.
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