Im Salzland

Von Krabben, Queller und Knerken. Eine durchaus kulinarische Spurensuche im nordfriesischen Watt

Am Mittag kommen die Wattwanderer. Anfangs sieht es so aus, als sei irgendwo am Festland ein riesiger Tuschkasten ausgelaufen. Blau und Gelb, Grün und Rot zerfließen in diesiger Ferne auf dem grauen Watt, mobile Farbkleckse ordnen sich im Näherkommen zu einem bunten Lindwurm, der sich über Priele und Bänke windet.

Es sind Menschen mit geröteten Gesichtern und geschulterten Rucksäcken, schlickfüßig, kurzhosig, zaushaarig und mit einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit in den Augen. Sie werfen forsche Blicke in Häuser und Kirche, umrunden energisch den kleinen grünen Hügel und verharren schließlich resolut vor dem weiten Wolkenhimmel. Großes Himmelskulissengeschiebe. Geschickte Regie. „Is dat nich schön?“

Hallig: von Halon, lateinisch: das Salz. Hügel im Salzland des heutigen Watts, das einmal grüne Marsch war. Nordseegetränkter Torf wurde dort ausgebuddelt und zur Salzgewinnung verbrannt. Bis das Land hinter den niedrigen Deichen so zernagt war, dass schwere Sturmfluten leichtes Spiel hatten bei seiner Abwicklung. Übrig blieben ein paar größere und kleinere Inseln. Auf den größeren mag das Leben mondän sein, auf den kleinen ist es einfach und eindeutig. Frivolitäten wie Badestrände, Strandkörbe oder auch nur ein Einkaufsgeschäft gibt es nicht.

Die Häuser stehen wie eine Wagenburg auf der Warft und halten den Sturm ab. In der Mitte spürst du kaum einen Hauch. Nirgendwo duften die Gartenrosen intensiver. Der Seewind sorgt für Tiefenreinigung der Nase. Eine seltsame Stimmung liegt über der deichlosen Insel, die so ausgesetzt wirkt in den Weiten der wütenden Wasser und die dennoch Beistand und Obhut vermittelt. Der Dichter Rainer Maria Rilke hat im Jahr 1907 diese Atmosphäre in seinem Gedicht über „Die Insel“ intoniert:

Nah ist nur Innres; alles andre fern.
Und dieses Innere gedrängt und täglich
mit allem überfüllt und ganz unsäglich.
Die Insel ist wie ein zu kleiner Stern

welchen der Raum nicht merkt
und stumm zerstört (...)

28 Menschen leben auf dem zu kleinen Stern. Sie einsilbig zu nennen wäre ein Euphemismus. Das macht vielleicht der Wind, der unnötiges Öffnen des Mundes mit Halsweh bestraft.

Redselig ist nur der Rheinländer, der seit drei Jahren die kleine Kneipe betreibt. Früher war er pro Jahr 150000 Kilometer unterwegs, jetzt hat er nach 150 Metern das Dorf komplett umrundet. 15 Wohnhäuser, eine Kirche, eine Schule mit vier Schülern. „Aber es ist immer etwas los“, sagt der Wirt. Sogar im Winter. Wenn es zum Beispiel mal schneit, dann schleppen die Insulaner den ganzen Inselschnee zu einer Stelle am Deich, wo die Kinder dann rodeln können.

Ein kleiner Hafen, eine kleine Insel mit kleinen Häusern, einer kleinen Kirche und einer kleinen Kneipe. Und drumherum graue Grenzenlosigkeit. Das Leben schrumpft auf Legoland-Format. „Inseln infantilisieren die Menschen, gerade indem die Menschen Inseln idealisieren“, schreibt James Hamilton-Paterson in seinen „Seestücken“; er weist aber zugleich darauf hin, dass Inseln „auch sexuell aufgeladene Orte sind, weil sie das Flair haben, außerhalb des Gesetzes, exterritorial, außer Sicht- und Reichweite zu sein“. Aber weit und breit kein Wattenluder in Sicht.

Es ist Sommer und seit drei Tagen Sturm. Die Gespräche kreisen ums Wetter. Klimakatastrophe? Immer mehr, immer stärkere Stürme, auch im Sommer? Man möchte es glauben, und die großen Versicherungen möchten es glauben machen. Doch die Statistik bestätigt den Trend nicht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es mehr und schwerere Stürme in unseren Breiten als heute. Zur Jahrhundertmitte hin sank ihre Frequenz, in den letzten Jahren steigt sie wieder – aber noch nicht über den Scheitelpunkt der alten Kurve hinaus.

Am anderen Morgen macht der Sturm Verschnaufpause. Still ist es mit einem Mal über dem Glitzergrau der Sände und Schlickflächen. So still, dass man ihn hört, „des gärenden Schlammes geheimnisvollen Ton“. Theodor Storm hat ihn in seinem Gedicht „Meeresstrand“ besungen. Andere sagen: Das Watt knistert. Ein feines, leises, aber deutliches Klickgeräusch. Ursache ist Corophium volutator, der gerade einen Zentimeter lange Schlickkrebs, der bevorzugt das Schlick- und obere Mischwatt besiedelt. Bis zu 40000 Individuen je Kubikmeter hat man gezählt.

Bei Flut sitzen die kleinen Krebse am Ausgang ihrer U-förmigen Wohngänge und harken mit zwei langen Antennen Sinkstoffe in den Wohngang, um sie auf Fressbares zu filzen. Und bei Ebbe kommt das Milliardenheer an die Oberfläche und spreizt die Antennen, wobei das kleine Wasserhäutchen platzt, das zwischen ihnen eingeschlossen ist. Dann macht es, ganz leise, „klick“. 40000 Mal pro Quadratmeter „klick“. Auf Fußballfeldgröße sechzigmillionenfach „klick“. Der Klick- und Schlickkrebs ist ein Überlebenskünstler. In Eiswintern kann er komplett einfrieren und seine vitalen Funktionen herunterfahren. Bei einsetzendem Tauwetter schüttelt er sich und geht zur Tagesordnung über.


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mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Peter Sandmeyer und Gisbert Lange

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Reporter des Sterns, und Gisbert Lange, Jahrgang 1946, freier Künstler in Hamburg, stachen für mare bei 32 Grad und schönstem Sommerwetter mit einer Segelyacht in die Nordsee, binnen Stunden jedoch zog Sturm auf. So kam es, dass sie Tage auf den Inseln Oland und Gröde-Appelland festsaßen und viel Zeit hatten, sich eingehend mit der Welt der Halligen zu befassen.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Reporter des Sterns, und Gisbert Lange, Jahrgang 1946, freier Künstler in Hamburg, stachen für mare bei 32 Grad und schönstem Sommerwetter mit einer Segelyacht in die Nordsee, binnen Stunden jedoch zog Sturm auf. So kam es, dass sie Tage auf den Inseln Oland und Gröde-Appelland festsaßen und viel Zeit hatten, sich eingehend mit der Welt der Halligen zu befassen.
Person Von Peter Sandmeyer und Gisbert Lange
Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Reporter des Sterns, und Gisbert Lange, Jahrgang 1946, freier Künstler in Hamburg, stachen für mare bei 32 Grad und schönstem Sommerwetter mit einer Segelyacht in die Nordsee, binnen Stunden jedoch zog Sturm auf. So kam es, dass sie Tage auf den Inseln Oland und Gröde-Appelland festsaßen und viel Zeit hatten, sich eingehend mit der Welt der Halligen zu befassen.
Person Von Peter Sandmeyer und Gisbert Lange