Im Mahlstrom der Moderne

Das Flüssige, Liquide ist ein Phänomen unserer Zeit – von der Kunst bis ins digitale Leben. Die Ursprünge sind aber viel älter

Das Flüssige, das Liquide ist ein Phänomen unserer Zeit. Von Zygmunt Bauman im Jahr 2000 in „Liquid Modernity“ beschrieben, von Zaha Hadid architektonisch als „Total Fluidity“ gesehen, ist das Fluide als Zeichen der Postmoderne gedeutet worden, als ein Aufweichen von Grenzen und ehemals starren Einheiten. 

Doch blicken wir zurück. Prominent tritt die Denkfigur der Verflüssigung in der Romantik auf, am Beginn der Moderne, zeitgleich mit einer rasanten Industrialisierung. Hier nimmt sie ihren Ausgang in der Literatur und auch in der Bildenden Kunst. Im Werk William Turners ist die Verflüssigung des Festen omni­präsent. Die Natur der Meere, die Natur der Erde, ihrer Steine, Felder, Wälder, zeigt sich hier immer wieder in formaufgelöster, gleichsam verflüssigter Art und Weise. Selbst Turners Berge, schreibt der Turner-Spezialist David Blayney Brown, sehen aus „wie eingefrorene Wellen“.

In dieser Kunst verändern sich die Aggregatzustände der ­Dinge. Feste Strukturen lösen sich auf. Die Elemente ringen mitein­ander und verschwimmen. Und was bei ihm auch wirklich neu ist: Turner kommt bei diesem visuell überaus dynamischen Spektakel der Verflüssigung bisweilen ganz ohne den Menschen als Bildthema aus.

Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Turner, der Maler der Schiffsuntergangsszenen, der Maler des Meeres, des Dunstes, des Nebels, der Meister zerfließender Aquarelle, nicht nur ein Vorläufer des Impressionismus war, sondern mehr noch, dass er den Expressionismus oder sogar noch 100 Jahre später Mark Rothkos ineinander verschwimmende Farbfelder vorwegnahm. Doch man kann den Gedanken noch weiter spinnen: Turners ­flui­de Dekonstruktion der Dingwelt wie etwa in seinem um 1840 entstandenen, fast monochromen „Sonnenaufgang mit einem Boot zwischen Landzungen“ ist gerade heute, in der digitalen ­Gegenwart, von großer Aktualität.

William Turners Diktum als Künstler ist das „Nichts bleibt“, das „Alles verändert sich“. Seiner Zerstäubung der Meereslandschaften entspricht in seinen terrestrischen Landschaftsbildern eine zunehmende Geschwindigkeit, ein scheinbar immer schnelleres Zerfließen von Zeit, Raum und Geschwindigkeit, wie er es etwa in seinem 1844 entstandenen Werk „Regen, Dampf und ­Geschwindigkeit – die Great Western Railway“ spektakulär vor Augen führt. 

Turner ahnte womöglich, wie wir die Welt heute wahrnehmen, wie wir heute Raum und Zeit überwinden. Es ist nicht schwer, von Turners Bildern über Pissarro und Monet zu Dada, Fluxus und Marshall McLuhans „Globalem Dorf“ geradewegs in virtuelle Daten-Räume zu springen, in denen die Auflösung der ­Geschwindigkeit ins Enorme gesteigert ist. Digitale Kultur ist so fluid wie Turners Kunst. Der digitalen Verflüssigung unserer Tage entspricht eine gefühlte Unsicherheit, aber zumindest auch die Hoffnung auf neue Möglichkeiten. 

Es sind die neuen Möglichkeiten im Zeitalter des Mash-Up, der (Re-)Kombination bestehender Inhalte, des Photoshop-„Verflüssigen-Filters“, die auch die Bildende Kunst zu nutzen versteht. Etwa in der Form von Werken der spanischen Künstlerin Cristina Iglesias, deren liquide Skulpturen den Gedanken der Verflüssigung des Festen weiterspinnen. Die 1956 geborene Bildhauerin und Installationskünstlerin lässt Abgüsse von Pflanzen und Ästen von Wasser überspülen, Architektur und Natur verschwimmen, und stellt die Frage: Kann Wasser eine Skulptur sein?

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mare No. 151

mare No. 151April / Mai 2022

Von Marc Peschke

Marc Peschke, 1970 in Offenbach geboren, Kunsthistoriker, Kulturjournalist, Kurator, Künstler und Musiker, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg und schreibt über ­Bildende Kunst, Fotografie, Fotokunst und Popmusik. Er arbeitet als Kurator, war Mit­inha­ber ­einer Galerie und einer Kulturbar. Seine künst­lerischen Arbeiten entstehen zumeist auf seinen Reisen an Küsten und auf Inseln Südeuropas und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.

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Vita Marc Peschke, 1970 in Offenbach geboren, Kunsthistoriker, Kulturjournalist, Kurator, Künstler und Musiker, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg und schreibt über ­Bildende Kunst, Fotografie, Fotokunst und Popmusik. Er arbeitet als Kurator, war Mit­inha­ber ­einer Galerie und einer Kulturbar. Seine künst­lerischen Arbeiten entstehen zumeist auf seinen Reisen an Küsten und auf Inseln Südeuropas und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.
Person Von Marc Peschke
Vita Marc Peschke, 1970 in Offenbach geboren, Kunsthistoriker, Kulturjournalist, Kurator, Künstler und Musiker, lebt in Wertheim am Main, Wiesbaden und Hamburg und schreibt über ­Bildende Kunst, Fotografie, Fotokunst und Popmusik. Er arbeitet als Kurator, war Mit­inha­ber ­einer Galerie und einer Kulturbar. Seine künst­lerischen Arbeiten entstehen zumeist auf seinen Reisen an Küsten und auf Inseln Südeuropas und sind in verschiedenen Sammlungen vertreten.
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