Im Land der Betrogenen

Auf den sumpfigen Sea Islands an der Atlantikküste der Südstaaten der USA kämpfen die Gullah um die Überreste der Kultur ihrer Vorfahren, Sklaven afrikanischer Herkunft

Es gibt diese Daten, die sich ins Gedächtnis der Menschen eingraben, nicht weil sie eine biografische Bedeutung für den Einzelnen hätten, sondern weil sie etwas Größeres markieren, eine historische Zäsur meist.
Der 12. April 1861 ist so ein Datum.
Der 7. November 1861 auch.

Das Aprildatum kennt jedes Schulkind im Land. Jener Tag markiert den Beginn des Bürgerkriegs; um 4.30 Uhr in der Früh fiel der erste Schuss auf das von den Nordstaaten unterhaltene Fort Sumter in der Bucht von Charleston in South Carolina.

Mit dem Novemberdatum verhält es sich anders, obwohl es auch um eine Schlacht ging, die nur einen Tag dauerte. Aber es betraf vorwiegend die Menschen der Region, vor allem jene, die auf den gut 100 sumpfigen, moskitogeplagten Inseln vor der Küste South Carolinas und Georgias lebten. Die allerdings betraf es mit Vehemenz, denn an jenem Donnerstag wurde den einen schlagartig klar, dass ihr Ende gekommen war. Für die anderen war es ein Anfang, allerdings keiner, der ein gutes Ende nehmen würde. Die einen waren die Weißen, die anderen die Schwarzen. Die Sklavenhalter und die Versklavten. Es geht in diesem Landstrich immer um die einen und die anderen, heute noch, auch wenn es die Kindeskinder der Sklavenhalter und der Sklaven sind.

Als die Schiffe der Union Navy in jenem November 1861 in den Port Royal Sound einliefen und die Soldaten der Konföderierten von der Insel Hilton Head aus schossen, flohen die Plantagenbesitzer über den Beaufort River ins Hinterland, ließen alles stehen und liegen, selbst die gedeckten Tische in ihren gediegenen Antebellumvillen, das Tafelsilber, die Kris- tallgläser und Chinawaren. Einfach weggerannt seien sie, hieß es, und dass auf St. Helena Island genau zwei Weiße verblieben seien, wie die Soldaten der Union staunend vermerkten: ein Mann aus New York, der dachte, als Yankee betreffe ihn das Ganze nicht, und ein sturztrunkener Landbesitzer, im Delirium das historische Ereignis versäumend. „Big gun shoot“ nennen die Gullah die Schlacht, die ihnen die Freiheit brachte – falls sie nicht von ihren Besitzern erschossen oder an einem Baum aufgeknüpft worden waren, weil sie nicht mit ihnen hatten fliehen wollen.

Woher der Name Gullah stammt, ist ungeklärt. Er könnte von „Angola“ kommen oder vom Volk der Gola in Liberia und Sierra Leone. Wer die Gullah aber sind, ist klar. Und wer sie nach außen vertritt, ist auch klar: Queen Quet.

Ohne Queen Quet – bürgerlich Marquetta L. Goodwine – würde die „Gullah Nation“ noch schneller auseinanderfallen, als sie es ohnehin tut. Die Sprache ginge schneller verloren, die Musik, der Tanz, das Wissen über Pflanzenanbau und Kräuter, über Trance, Geister und deren Austreibung. Vor allem die Erinnerung an die Leiden der Vorfahren geriete in Vergessenheit, die Forderung nach Wiedergutmachung. Queen Quet kämpft auf allen Ebenen für die Gullah, die auch Geechee heißen, was wiederum von Kissi abgeleitet sein könnte, einer Ethnie in Westafrika.

Von St. Helena Island aus orchestriert die gewählte „Chieftess of the Gullah/Geechee Nation“ die Belange jener Menschen, deren Vorfahren auf den Sea Islands und im angrenzenden Küstenstreifen als Sklaven auf den Feldern und in den Häusern den sagenhaften Reichtum ihrer Besitzer erarbeiteten. Die kraftstrotzende Quet, stets in afrikanische Kleider gewandet, sprach 1999 als erste Gullah auf einer UN-Konferenz in Genf, auch im Weißen Haus war sie schon mehrmals.

Millionen Amerikaner haben Gullah-Vorfahren, Michelle Obama gehört dazu, ihr Ururgroßvater wurde als Sklave auf einer Reisplantage in South Carolina geboren. 250 000 Menschen sprechen heute noch Gullah, eine auf dem Englischen basierende Kreolsprache, die unterschiedliche afrikanische Sprachen in sich vereint, Grammatik und Satzstruktur sind afrikanisch geprägt.

Die meisten leben an der Atlantikküste der Südstaaten, aber auch in New York und Detroit gibt es Gemeinden. Clarence Thomas, einer der neun Supreme-Court-Richter, ist mit Gullah als Muttersprache aufgewachsen, hat als Kind wohl eher „dem chillun binnuh nyam all we rice“ als „these children eat all our rice“ gesagt. Gullah war für die Sklaven eine Art Esperanto, das ihnen die Kommunikation untereinander ermöglichte, egal, aus welchem Sprachraum sie stammten. Zudem verstanden die masters diesen gutturalen Singsang oft nicht, gerade jene, die vorwiegend in ihren Villen in Savannah, Beaufort oder Charleston residierten und nur selten ihre Plantagen auf den malariaverseuchten Inseln besuchten. 


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mare No. 123

No. 123August / September 2017

Von Zora del Buono und Joan Bardeletti

mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, geboren 1962, war oft in den Südstaaten unterwegs. Ihr 2010 im mareverlag erschienener Roman Big Sue spielt bei den Gullah. In ihrem Buch Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen hat sie die Angel Oak porträtiert, jene Eiche, an der viele Sklaven ihr Leben lassen mussten.

Der französische Fotograf Joan Bardeletti, Jahrgang 1976, las über Queen Quet und wurde so auf die Gullah aufmerksam. Er arbeitet oft in Afrika und gewann einen World Press Award. Derzeit lebt er in Barcelona und wird von der Agentur Panos Pictures vertreten.

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Vita mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, geboren 1962, war oft in den Südstaaten unterwegs. Ihr 2010 im mareverlag erschienener Roman Big Sue spielt bei den Gullah. In ihrem Buch Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen hat sie die Angel Oak porträtiert, jene Eiche, an der viele Sklaven ihr Leben lassen mussten.

Der französische Fotograf Joan Bardeletti, Jahrgang 1976, las über Queen Quet und wurde so auf die Gullah aufmerksam. Er arbeitet oft in Afrika und gewann einen World Press Award. Derzeit lebt er in Barcelona und wird von der Agentur Panos Pictures vertreten.
Person Von Zora del Buono und Joan Bardeletti
Vita mare-Kulturredakteurin Zora del Buono, geboren 1962, war oft in den Südstaaten unterwegs. Ihr 2010 im mareverlag erschienener Roman Big Sue spielt bei den Gullah. In ihrem Buch Das Leben der Mächtigen – Reisen zu alten Bäumen hat sie die Angel Oak porträtiert, jene Eiche, an der viele Sklaven ihr Leben lassen mussten.

Der französische Fotograf Joan Bardeletti, Jahrgang 1976, las über Queen Quet und wurde so auf die Gullah aufmerksam. Er arbeitet oft in Afrika und gewann einen World Press Award. Derzeit lebt er in Barcelona und wird von der Agentur Panos Pictures vertreten.
Person Von Zora del Buono und Joan Bardeletti