„Ich wusste nicht, wohin mit uns“

Ein Seawatch-Aktivist barg ein totes Kind aus dem Mittelmeer. Das Bild ging um die Welt. In mare schreibt er, was in ihm vorging

Es war der 27. Mai 2016, die „Sea-Watch 2“ befand sich im Suchgebiet etwa 25 Meilen vor der libyschen Küste, wir waren bereits seit zehn Tagen auf See, die Besatzung: zehn Männer, drei Frauen, aus Deutschland, den Niederlanden und Italien, im Alter zwischen 24 und 56 Jahren. Der Wind hatte bereits in den Abendstunden auf Süd gedreht, in der Nacht waren Boote von der libyschen Küste aus gestartet. Gegen 6.30 Uhr klingelte das Satelliten­telefon, eine junge, völlig übermüdete, aufgeregte Stimme berichtete von einem Kontakt mit einem sinkenden Boot, wir sollten sofort dorthin fahren. Ich ließ mir die Position geben und sagte dem Mann, dass wir mit unserem Schiff bei voller Fahrt mit 9,6 Knoten über fünf Stunden brauchen würden. Aber der Aktivist der NGO Alarm Phone bat inständig darum, dass wir fahren. Er habe mit dem Boot Kontakt, es sei furchtbar, es ­sinke, alles sei völlig chaotisch.

Wir nahmen Kurs auf mit voller Fahrt, und nach einigen Stunden näherten wir uns dem havarierten Holzboot, das ein paar Zentimeter aus dem Wasser ragte. Vor Ort waren zahlreiche Rettungsinseln zu sehen, drei Kriegsschiffe waren inzwischen eingetroffen, unruhiges Wasser, um ihr Leben kämpfende Menschen, Schnellboote, Beobachtungshubschrauber.

Gegen 15.30 Uhr kam der Funkspruch eines Küstenwachschiffs der italienischen Marine, der „Nave Vega“, mit der Anordnung, dass wir unser Schlauchboot zur Verfügung stellen sollten, um die zahlreichen Leichen zu bergen. Denn wer bis jetzt nicht gerettet sei, sei ertrunken. Wir fuhren zu den Rettungsinseln, eine nach der anderen, alle leer. Dann trafen wir auf die erste Leiche, Meilen entfernt von der „Nave Vega“ und der „Sea-Watch 2“, die noch am Horizont zu sehen war. Es war eine junge Frau, wir nahmen sie mit einem Netz ins Boot. Dann fanden wir ein junges Paar, sich festhaltend, dicht unter der Oberfläche treibend. Dann kamen die Kinder, sie schwebten tief im Wasser, das Mittelmeer ist bei einer bestimmten ­Sonneneinstrahlung wie Glas. Schwamm da die Puppe eines Kindes? Nein. Es war ein Kind, ein kleiner Junge.

Ich nahm ihn in den Arm. Loslassen, den toten Körper des Kindes in die Bilge unseres Schnellboots legen – nicht einen Moment bin ich auf die Idee gekommen. Ich trug ihn, wie ich meine Kinder getragen habe. Vielleicht eine Seemeile lang hielt ich die Leiche des kleinen Jungen ganz nah bei mir, mit meinem Körper die Wellen ausbalancierend, damit ihm nichts zustoße. Einerseits wusste ich, dass das Kind tot war, andererseits fühlte ich, dass es etwas in mir auslöste, sodass ich es festhielt. Mir war nach Schreien – ich wusste nicht, wohin mit uns beiden.


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mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Martin Kolek

Martin Kolek, geboren 1966, arbeitet als Musik- und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Paderborn. Er ist verheiratet und hat drei Söhne im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Im vergangenen Jahr gehörte er zur Crew der fest­gesetzten „Sea-Watch 3“. In diesem Jahr hofft er, dass die Menschen gerettet werden und in sichere Häfen kommen und überhaupt niemand und schon gar keine Kinder in seeuntaugliche Boote steigen müssen.

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Vita Martin Kolek, geboren 1966, arbeitet als Musik- und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Paderborn. Er ist verheiratet und hat drei Söhne im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Im vergangenen Jahr gehörte er zur Crew der fest­gesetzten „Sea-Watch 3“. In diesem Jahr hofft er, dass die Menschen gerettet werden und in sichere Häfen kommen und überhaupt niemand und schon gar keine Kinder in seeuntaugliche Boote steigen müssen.
Person Von Martin Kolek
Vita Martin Kolek, geboren 1966, arbeitet als Musik- und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Paderborn. Er ist verheiratet und hat drei Söhne im Alter zwischen 16 und 19 Jahren. Im vergangenen Jahr gehörte er zur Crew der fest­gesetzten „Sea-Watch 3“. In diesem Jahr hofft er, dass die Menschen gerettet werden und in sichere Häfen kommen und überhaupt niemand und schon gar keine Kinder in seeuntaugliche Boote steigen müssen.
Person Von Martin Kolek