Anna Gislén lebt damit, dass ihr die Gesprächspartner mitunter tief in die Augen sehen. Wenn sich der Blick des Gegenübers in ihrer Pupille, nun ja, verbeißt. Wenn er versucht, ihr unter die Hornhaut zu blicken, vorbei an Glaskörper, Linse bis zur Netzhaut. Denn dort, zwischen Cornea und Retina, spielt der größte Teil der Geschichte. Das Starren ist ihr stets ein bisschen unangenehm, einerseits. Andererseits: Wer so stiert, versucht zu folgen. Man muss sehr dicht ran, um Anna Gisléns Thema zu begreifen.
Oder erst einmal sehr weit weg. Aus ihrem Labor im schwedischen Lund nach Thailand. An einen Strand wie unzählige in diesem bemerkenswerten Teil Asiens. Auf eine Insel mit Namen Mu Ko Surin. 100 Kilometer südlich liegt Patong, einer der sonnigen Kontakthöfe Siams, so berühmt wie Pattaya, der billigen Mädchen wegen und der Transvestiten und der hemmungslosen Europäer.
Ein schnelles Boot braucht gute anderthalb Stunden vom Port Khuraburi, vom Festland, nach Mu Ko Surin. Hier ist das andere Thailand, das schöne. Der Dschungel greift bis nah ans Wasser, Affen flitzen zwischen den Zelten der Camper, ein paar Ranger wachen über Papierkörbe und die Häuschen der Einsiedlerkrebse, hier ist Nationalpark. Wer sich ungebührlich benimmt, auch das ein Unterschied zu Patong, fliegt raus. Bisher hatten die Moken Glück.
Kaum 200 sind es auf gerade 200 Meter Sand, zugeteilt vom Nationalpark. Seezigeuner, Halbnomaden mit dunkler Haut und schwarzem Haar, rotblonde Strähnen darin. An die 20 Bambushütten sind ans Ufer gestellt, mit Stelzen gleich hochbeinigen Insekten, die vordersten stehen im Wasser. Hinten lärmt der Wald, ein ewiges Feuer qualmt, kein Unrat darf ins Meer. An den Rändern dieser Welt türmen sich kantige Steine, links entleeren sich die Männer, rechts die Frauen. Die Kinder tun es, wo sie stehen.
Mit ihren Booten segelten die Moken einst über die Andamanensee, uferlos, staatenlos noch immer, bis Burma hoch und runter nach Phuket und weiter bis vor Thailands Golf. Tausende Quadratkilometer Raum. Ihr Leben war eine stete Reise, das Hier die unfassbare Spanne zwischen den Horizonten. Zwei, drei Familien teilten sich ein Boot und die Ernte des Meeres, Fische, Muscheln, Seegurken. Sie hatten Netze und Speere und Lungen, die das Wasser zu atmen schienen. Stundenlang klaubten sie ihre Beute von den Gründen, jagten, speerbewehrt, den Barschen hinterher, so tief die Sonne reichte. Sie schlugen mit den Paddeln auf das Wasser, wenn ein Hai kam, die unten zu warnen. Sie klammerten sich an die Boote zum Essen und, sagen die Alten, rauchen mussten wir ja auch mal.
Nur der jährliche Monsun trieb sie nach Surin, Hütten zu bauen, Unterstände gegen Regen und Wind, bis es wieder hinausging für Monate. Es ist der Ort, an dem ihre Nachgeburten vergraben wurden, ihr Zuhause ist es nicht, das ist längst verrottet. Ihr Meer ist aufgeteilt unter Staaten, deren Bürger sie nicht sein dürfen. Die sie an die Strände zwingen wie diesen und wieder vertreiben, wenn es nötig scheint. Der Wald hat ihre Boote gegriffen, Gras wuchert über Planken.
„Wir kommen hier nicht mehr weg“, sagt Salama, grau, faltenlos der Bauch, der Älteste. „Wir dürfen kein Holz mehr hauen, keine Stämme, um neue Boote zu bauen.“
Vor einigen Jahren schwamm eine schwedische Wissenschaftlerin mit ihnen um die Korallen. Wo, wenn nicht bei diesen zweibeinigen Amphibien, ließe sich besser klären, was die Forscherin umtrieb: die Physiologie der Tauchreflexe, jene Regungen des Körpers, die im Wasser das Herz langsamer schlagen lassen, die Atmung verzögern, die zusätzliches Blut in die wichtigsten Organe schießen, um ihnen mehr Sauerstoff zu geben. Die Kinder hatten ihren Spaß; immer wieder stießen sie hinab, zielgenau, brachten Kiesel vom Grund. Sie wollte nicht undankbar sein und verstaute den Ballast. Erst an Land merkte sie, was die Steinchen wirklich waren: winzige Muscheln, Schnecken in den Farben des Meeresbodens. Wie nur konnten die Kinder mit bloßem Blick entdecken, was sich ihr selbst mit Schwimmbrille nur als fahles Einerlei offenbarte? Anna Gislén hatte das Thema ihrer Doktorarbeit.
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Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik.
Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, lebt in New York.
Beide erlebten eine Recherche, die sie atemlos machte: nicht nur wegen der Pracht der Korallenriffe, auch wegen der fünf Meter Tiefe, in der sie manchmal zu arbeiten hatten. Am aufregendsten aber war der Hai, den sie zum Glück nur vom sicheren Ufer aus sahen.
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik.
Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, lebt in New York. Beide erlebten eine Recherche, die sie atemlos machte: nicht nur wegen der Pracht der Korallenriffe, auch wegen der fünf Meter Tiefe, in der sie manchmal zu arbeiten hatten. Am aufregendsten aber war der Hai, den sie zum Glück nur vom sicheren Ufer aus sahen. |
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Person | Von Maik Brandenburg und Andrew Testa |
Vita | Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, ist mare-Redakteur für Gesellschaft und Politik.
Der britische Fotograf Andrew Testa, geboren 1965, lebt in New York. Beide erlebten eine Recherche, die sie atemlos machte: nicht nur wegen der Pracht der Korallenriffe, auch wegen der fünf Meter Tiefe, in der sie manchmal zu arbeiten hatten. Am aufregendsten aber war der Hai, den sie zum Glück nur vom sicheren Ufer aus sahen. |
Person | Von Maik Brandenburg und Andrew Testa |