Hört das Meer

Die Geschichte der Musik ist auch eine Geschichte der Vertonung des Meeres und seiner unbändigen Mächte

Meer hören. Dieses gewaltige Rauschen an einem Sturmtag am Strand. Es erfüllt die Luft, übertönt die Kakophonie der Alltagsgedanken und bringt sie nach und nach zum Verstummen. Plötzlich eine Flöte hören, virtuose, rasende Tonfolgen im Wettlauf mit jagenden Streicherfiguren, hinauf und hinab, eine einzige ungeheure dramatische Steigerung: „La tempesta di mare“, „Der Seesturm“, von Antonio Vivaldi. Das Ungeordnete, nicht zu Bändigende des Naturereignisses hat der Venezianer in die musikalische Form eines Konzerts für Flöte, Streicher und Basso continuo gegossen.

Heulender Sturm, peitschende Regengüsse, tosende Wogen – die Affekte der Natur mimetisch abzubilden war das Ziel barocker Musikästhetik. In seiner „Wassermusik“ von 1723, einer Instrumentalsuite aus zehn Tanzsätzen mit dem Untertitel „Hamburger Ebb’ und Fluth“, verkörpert der Komponist Georg Philipp Telemann die Stimmungsumschwünge des Meeres durch antike Meeresgötter und ahmt sie tonmalerisch nach.

Die schöne Meeresnymphe Thetis, eben aus dem Schlaf erwacht, räkelt sich lustvoll im Hamburger Hafen. Endlos lange Oboentöne malen das Bild der ruhigen See, sanft auf und ab wogende Blockflötengirlanden zeichnen die schlafende Thetis. Sie bleibt nicht lange allein; der verliebte Neptun gesellt sich zu ihr, begleitet von fröhlich spielenden Najaden. Auch Triton, Neptuns Sohn, scherzt mit den hübschen Meeresdamen. Plötzlich erscheint Äolus, der König der Winde, und mit schnellen Streicherrhythmen rollen in einem gewaltigen Crescendo Flut und Sturm heran. Doch der milde Zephir, Gott des Westwinds, besänftigt mit seinem Hauch Menschen, Götter und Natur. Ein fröhliches Menuett charakterisiert die nun beruhigte See, es herrscht Ebbe. Der letzte Satz zeigt mit einer volkstümlichen, tänzerischen Melodie „Die lustigen Bootsleute“ bei einer fröhlichen Feier.

In zahlreichen Barockopern gibt es gewaltige Seesturm­szenen, in denen sorgfältig ausgeklügelte Wind- und Donnermaschinen zusammen mit dem Orchester für spektakuläre Bühnenunwetter sorgen. Dramaturgisch bezeichnen sie oft den Wendepunkt der Handlung. Eines der schönsten Beispiele solchen Theaterdonners findet sich im vierten Akt der 1706 uraufgeführten Oper „Alcyone“ des französischen Komponisten Marin Marais, Gambist und Komponist am Hof Ludwigs des XIV.

In Mozarts wildester Oper, „Idomeneo“ von 1781, klingen der Sturmchor und das Erscheinen eines riesigen Seeungeheuers dank fortgeschrittener Instrumentierungsmöglichkeiten noch überwältigender. Entfesselte Naturgewalten wallen aus dem Orchestergraben herauf. Sie werden zur Metapher der Seelenzustände der Figuren, hier der Wut und Rache der Elettra.

In Bellinis romantischer Oper „Il Pirata“ aus dem Jahr 1826 findet sich ebenfalls eine große Seesturmszene; Verdis „Otello“ von 1887 beginnt direkt mit einem überwältigenden Sturmchor, in dem der Kampf eines Segelschiffs in einer schäumenden See geschildert wird; Wagners „Fliegender Holländer“ ist durchzogen von herrlichsten musikalischen Seesturmdarstellungen.

Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde die Natur als undurchschaubare, übermächtige Kraft erlebt, der der Mensch schicksalhaft ausgeliefert war. Durch tief greifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandelte sich das Verhältnis des Menschen zur Natur grundlegend. Der Einzelne nimmt sich völlig verändert wahr als selbstständig denkendes, empfindendes und handelndes Subjekt. Das findet seinen Niederschlag in den Küns­ten. „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“ ist das Motto in Beethovens sechster Sinfonie, in der Landschafts- und auch Sturmschilderungen musikalisch dargestellt werden. Diese befreiende Abkehr vom künstlerischen Mimesisideal bezeugt ein neues schöpferisches Selbstverständnis und eröffnet unendliche Möglichkeiten. Die Natur wird zunehmend zum symbolischen Gegenbild der Innerlichkeit.

„Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne Regung ruht das Meer, und bekümmert sieht der Schiffer glatte Fläche ringsumher.“ Zwei Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, „Meeres Stille“ und „Glückliche Fahrt“, inspirierten Beethoven in den Jahren 1814 und 1815 zu einer Kantate für vierstimmigen Chor und Orchester. Das Meer spiegelt die eigenen seelischen Empfindungen wider. Meisterhaft komponiert Beethoven zunächst die „ungeheuere Weite“ aus, dann den Übergang von der den Schiffer ängstigenden Windstille zur auffrischenden Brise, die die Weiterfahrt und eine glückliche Heimkehr ermöglicht.


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mare No. 116

No. 116Juni / Juli 2016

Von Elke Seifert

Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik machte Elke Seifert eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist vielseitig tätig als Sängerin, Übersetzerin, Autorin, Rezensentin und betreut die Klassik- und Kunstabteilung einer Buchhandlung in Freiburg. „Im dichten Nebel auf einem Segelschiff vor der französischen Küste plötzlich innerlich Musik hören und gegen den Schrecken ansingen – Meer und Musik, da verbanden sie sich in mir.“

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Vita Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik machte Elke Seifert eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist vielseitig tätig als Sängerin, Übersetzerin, Autorin, Rezensentin und betreut die Klassik- und Kunstabteilung einer Buchhandlung in Freiburg. „Im dichten Nebel auf einem Segelschiff vor der französischen Küste plötzlich innerlich Musik hören und gegen den Schrecken ansingen – Meer und Musik, da verbanden sie sich in mir.“
Person Von Elke Seifert
Vita Nach dem Studium der Romanistik und Germanistik machte Elke Seifert eine klassische Gesangsausbildung. Sie ist vielseitig tätig als Sängerin, Übersetzerin, Autorin, Rezensentin und betreut die Klassik- und Kunstabteilung einer Buchhandlung in Freiburg. „Im dichten Nebel auf einem Segelschiff vor der französischen Küste plötzlich innerlich Musik hören und gegen den Schrecken ansingen – Meer und Musik, da verbanden sie sich in mir.“
Person Von Elke Seifert