Höchste Potenz, von oben gesehen

Die irrealen Meeresbilder des Fotografen Andreas Gursky lassen­ uns verloren gegangenes Gefühl der Naturerhabenheit spüren

Kunstwerke wollen wirken. Entweder auf der intellektuellen oder auf der emotionalen Ebene. Sie können gesellschaftliche Reflexionen, politische Fragen oder historische Informationen transportieren oder aber ein Gefühlskonvolut von Sehnsüchten, Harmonien bis zu Unwohlsein und Aufgeregtheit erzeugen. In der Kunstrezeption ist beides gleichwertig. Wichtig ist, dass das Werk etwas im Betrachter auslöst. Manche Künstler stimulieren mit ihren Arbeiten auch beide Reaktionsbereiche, den Geist und das Gefühl. Nicht immer, aber oft wird diese Stimulation durch das Erhabene erreicht. Gemeint ist damit eine Art schauerlichen Staunens, das am Anfang steht und sich dann in ein positives Gefühl des Schönfindens und der Selbstbehauptung auflöst.

Ein typisches Beispiel aus der Philosophie des 18. Jahrhunderts ist das weite Meer oder das Gewitter. Beide Naturkräfte stellten eine physische Gefahr dar. Ein Blitzeinschlag kann Feuer in Häusern und Scheunen entfachen und schließlich tödlich für Mensch und Vieh enden. Parallel zu Forschungen über Blitzableiter trugen auch Philosophen dazu bei, das Gewitter in Schach zu halten. Das Prinzip: Steht der Mensch in sicherer Entfernung zum Gewitter, kann er den physisch bedrohlichen Aspekt überspringen. Größe und Macht des Gewitters nimmt er ehrfürchtig und staunend wahr, um dann zu einem fast genießerischen Lustmoment der Reflexion zu gelangen. Zwar bleibt der Mensch der Naturgewalt körperlich unterlegen, nicht aber sein Geist.

Die menschliche Einbildungskraft, die die fremde Größe erkennt, muss ebenfalls groß sein, um sie (ästhetisch) wahrnehmen zu können. Die eigene Seelenstärke erwächst in der schauerlich lustvollen Betrachtung der physischen Naturstärke. Der Geist selbst wird erhaben.

In die Malerei schlug die Idee der Erhabenheit ebenfalls ein wie ein Blitz. Viele Künstler entwarfen Landschaften, die dem Menschen zu diesem erhabenen Gefühl verleiten sollten. Einer von ihnen war der Engländer Briton Rivière. Im Jahr 1890 malte er ein Eisgebirge in einem festlichen, gelb-bläulichen Sonnenuntergangslicht. Auf einem Gipfel steht ein Eisbär, der majestätisch in die Ferne sieht. Der Betrachter ist von diesem für den Menschen unwirtlichen Ort ausgeschlossen. Dennoch kann er geistig die Macht und Kraft der Eisberge und des anmutigen Raubtiers begreifen und rezeptiv für sich nutzen, ähnlich wie bei der Betrachtung eines fernen Gewitters.

Erhabene Naturdarstellungen haben auch in der gegenwärtigen Kunst nichts an Aktualität oder Wirkungskraft verloren. Der Fotograf Andreas Gursky reiht sich mit seiner gefeierten „Ocean“-Serie in diesen Topos ein. Er sammelte Satellitenbilder aus dem Internet, die Küstenregionen und Meere zeigten. Es sind Ansichten, wie man sie auch bei Google Earth findet. Aus diesen Bildern setzte er eine Landschaft am Computer zusammen. In der Mitte stets ein Meer, vom Bildrand reichen Zipfel von Landmassen hinein, dargestellt sind der Indische Ozean, der Atlantik, der Pazifik und das Südpolarmeer.

Geografische Korrektheit hielt Gursky nicht ein, je nach Komposition verrückte er ein Land auch mal um hundert Kilometer weiter nach rechts oder links, mal nach oben oder unten. Seine mehrere Meter großen Fotodrucke sind künstlerische Interpretationen der Weltraumperspektive auf unsere Meere. Doch nicht nur die Länder, auch die Meere selbst sind nicht naturalistisch. Gursky bearbeitete die Wassermassen, fügte neue hinzu und veränderte die Farbigkeit. Über die richtigen Blautöne, die tief, gefährlich und imposant erscheinen sollten, dachte der Künstler lange nach, besprach sie auch mit seinem Vater, einem früheren Werbefotografen.

Gursky ist bekannt für seine Bilder, die real erscheinen, aber ihre surrealistische Aura durch die Nachbearbeitung am Computer erhalten. So entstehen zum Beispiel Landschaftsaufnahmen ohne perspektivische Verkrümmung an den Seiten, einfach weil er mehrere En-face-Bilder aneinanderreiht. Somit erzeugt er ein Gefühl von Unendlichkeit und Monumentalität. Auch die Meere wirken auf Gurskys Bildern monumental, in ihrer Tiefe, ihrer blauen Herrschaftsfarbe und ihrer Unwirtlichkeit: ein prachtvoller Nichtlebensraum für den Menschen. So entsteht auch hier wieder das Gefühl von Erhabenheit, von emotionaler und geistiger Kunstwirkung.

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mare No. 133

No. 133April / Mai 2019

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die „Zeit“ und das Kunstmagazin „Art“. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.

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Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die „Zeit“ und das Kunstmagazin „Art“. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol
Vita Larissa Kikol, geboren 1986, ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem für die „Zeit“ und das Kunstmagazin „Art“. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol