Hinter dem Firnis der Revolution

Havannas Leben hat ein afrikanisches Gesicht. Ein Spaziergang entlang der Hafenpromenade Malecón

La Habana verzaubert mit Erinnerungen, die nicht die eigenen sind. Träge flappt der Deckenventilator, ein Glas halbvoll mit Rum steht auf dem verschatteten Schreibtisch. Der Unrasierte mit den schweißnassen Achseln drückt vorsichtig die Lamellen des Rollos auseinander, beobachtet das Treiben unter den Arkaden der Plaza. Männer mit Panamahüten gehen undurchsichtigen Geschäften nach. Amischlitten mit protzigen Heckflossen gleiten vorbei, und im hautengen Kleid wippt eine milchkaffeebraune Schönheit über den Platz. Von irgendwoher seufzt eine Trompete, klacken die Schlaghölzer einer Straßencombo. Feucht und klebrig brütet die Luft des Golfes von Mexiko über dem Hafenviertel. Eine Detektivstory? Szene aus dem Leben des Kuba-Liebhabers Hemingway? Irgendwo hat man das schon mal gesehen, aber nie erlebt. Oder doch? Vielleicht gerade eben. Déjà-vu in Havanna 1999.

Im Jahr 40 nach dem Aufstand unter Führung des „Comandante en jefe“ Fidel Castro weiß das Volk der zusammengebissenen Zähne und lasziver Musikalität nicht, in welcher Gegenwart es lebt. Handelsembargo und Devisenfreigabe, sozialistische Durchhalteparolen und blühender Dollartourismus. Im abgeschotteten Treibhaus der Revolution wurde der marode Charme der 50er Jahre kultiviert.

90-jährige Greise wie der Son-Musiker Compay Segundo werden zu Botschaftern des neuen Kuba. Verfallendes Havanna – eine wehmütige Filmkulisse, die vor rhythmischer Vitalität strotzt. Aufbruch in die Nostalgie? Wer weiß, das Zeitempfinden der Habaneros ist voller Geheimnisse.

Der Malecón – Beckenrand des Golfes. In elegantem Schwung verbindet Havannas berühmte Uferpromenade auf acht Kilometern Unvereinbares: das Nobelviertel Vedado mit seinen Art-déco-Villen aus den 20ern und die Betonkästen des tropischen Realsozialismus, hinfällige Kreolenhäuser im Zentrum und die gesandstrahlte Kolonialpracht der Altstadt. Zwischen der Mündung des Rio Almendares im Osten und der Hafeneinfahrt im Westen gleicht Havanna einem Irrgarten der Epochen.

Der Malecón – Havanna total im Zwei-Meter-Streifen. Alles spielt sich um das Promenadenmäuerchen ab. Hier wird geangelt, gezockt, geschmust, gedöst, gedealt. Familien feiern Geburtstage mit Zuckerrohrschnaps, Arbeitslose verhökern falsche Edelzigarren, Schüler tanzen Mambo zu Klängen von der anderen Straßenseite. Auch anders wird geangelt, in engen Klamotten und auf Plateausohlen: Männer mit prallen Brieftaschen. Auf Rad-Gepäckträgern karren Jungs nach Sonnenuntergang Mädchen in geschlitzten Abendkleidern herbei, die Fremde aus Übersee mit „Schsch“ anmachen. „Sextourismus ist die Geldpumpe der Revolution“, behaupten scharfe Zungen. Schon möglich. Die Razzien jedenfalls, bei denen das Regime die lockenden Nachtgeschöpfe einsammelt, zeugen von einem Dilemma: Ökonomisch sind Straßenmädchen erwünscht, politisch jedoch verfemt. Eines ist gewiss: Angesichts der erotischen Koketterie, die Havannas Alltag bestimmt, tun sich Unbedarfte schwer, echte Flirts von verschleierter Prostitution zu unterscheiden.

Der Malecón – Sehnsuchtsgrenze der Hauptstädter. Wer schaut hier nicht verträumt über die gischtzerfressene Balustrade gen Norden. Im tiefblauen Samt des Meeres liegen drei Frachter. Dort draußen beginnt das „Andere“. Über der Horizontlinie blähen sich Kumuluswolken wie eine gebauschte Gardine. Dahinter – die USA. Traumland, Invasorenland. Nur 90 Seemeilen oder 165 Kilometer entfernt. Auch am Malecón ließen im Sommer 1994 die Kubamüden ihre Styroporflöße zu Wasser, um sich nach Florida treiben zu lassen. Mit der geduldeten Massenflucht schuf Castro ein Ventil für die Embargo-Wirtschaft und signalisierte den Imperialistas in Washington: Wenn ihr uns als Revolutionäre nicht wollt, kommen wir als menschliches Treibgut!

Ungefähr auf halber Länge des Malecón steht das einstmals halbseidene Wahrzeichen Havannas: Das Kasino-Hotel Nacional. Gleich kastilischen Kirchen thronen die Doppeltürme auf dem restaurierten Flügelbau von 1930. Sanft fällt der Palmenhügel an der Vorderfront ab zur Bucht. Die Combo spielt, Rumbakugeln schlagen. Zierliche Frauen mit Strohhüten rauchen massige Cohiba-Zigarren. Wieder stirbt die Zeit. Palmenblätter wischen über den ermatteten Himmel. Pfauen schreiten durch die Szenerie. Ihre nickenden Hälse sind ein Echo des Meeres: in den Farbtönen Türkis, Lapislazuli, Smaragd.

Ab und zu kommt Jorge hierher, genießt auf Einladung des Hauses seinen Kaffee. Der alte Herr mit dem feinen Gesicht und den pomadisierten Haaren übergab seinerzeit den Kasinoschlüssel an Fidel Castro, symbolischer Triumph des roten Kuba über das nordamerikanische Sündenbabel. Wenn der einstige Direktor des Nacional erzählt, lebt die vorrevolutionäre Ära auf: „Zu den Nachtrevuen im ‚Tropicana‘ begleitete ich Ava Gardner. Alle wunderten sich über mich, den Unbekannten an der Seite der Filmdiva, damals.“ Es waren die Jahrzehnte, da José Raul Capablanca seine legendären Schachpartien ausfocht, Nat King Coles rauhwarme Stimme die Welt eroberte und Fred Astaire lächelnd über die Leinwand steppte. Allesamt Gäste im Nacional.


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mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Thomas Worm und Alexis Cordesse

Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin. In mare schrieb er zuletzt über die Insel Curaçao: „Projektion in Blau“ (Heft 15).

Alexis Cordesse, geboren 1971, arbeitet als freier Fotograf für die Agentur lookat in Zürich und lebt in Havanna. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare

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Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin. In mare schrieb er zuletzt über die Insel Curaçao: „Projektion in Blau“ (Heft 15).

Alexis Cordesse, geboren 1971, arbeitet als freier Fotograf für die Agentur lookat in Zürich und lebt in Havanna. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare
Person Von Thomas Worm und Alexis Cordesse
Vita Thomas Worm, Jahrgang 1957, lebt als freier Autor in Berlin. In mare schrieb er zuletzt über die Insel Curaçao: „Projektion in Blau“ (Heft 15).

Alexis Cordesse, geboren 1971, arbeitet als freier Fotograf für die Agentur lookat in Zürich und lebt in Havanna. Dies ist seine erste Veröffentlichung in mare
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