Himmel, Erde, Meer

Was ist schon dabei, wenn eine Rußseeschwalbe ihr Ei legt? Auf den Osterinseln wird der Finder zum König ausgerufen

Jedes Jahr, wenn der Frühling über den Nabel der Welt kam, schwand die alte Macht. Sie verrann, jeden Tag mehr, die Zeit des Wettstreits stand bevor. Boten wurden ausgesandt, zu allen zwölf Stämmen von Te pito o te henua, so nannten die Menschen die Insel, auf der sie lebten: Nabel der Welt. Die Priester bereiteten ihre zeremoniellen Doppelpaddel, prächtig verziert, wie es Sitte war, die Schriftgelehrten bestimmten die Lieder zum Lobpreis des Schöpfers, und auch die adeligen Krieger wappneten sich gemäß der Tradition, sie schnürten ihr Haar zu Knoten und legten Kopfschmuck aus Rindenbast an. Der König selbst schickte sich als Erster an, mit seinem Gefolge hinauf nach Orongo zu ziehen, den heiligen Ort seines Volkes, gelegen auf dem Kraterrand des erloschenen Vulkans Rano Kao. Dort in Orongo, wo sich Erde und Himmel und Meer treffen, dort begann der Wettstreit, und dort endete er, dort endete die alte Macht, und dort entstand die neue – durch das Ei einer Schwalbe. Zu Ehren des Schöpfers Makemake kürten die Menschen dort jeden Frühling ihren neuen Vogelmann, den Herrscher der Osterinsel für ein Jahr.

Noch heute ist das Zeremoniendorf Orongo ein sehenswerter Ort auf der Osterinsel, wie der Nabel der Welt inzwischen genannt wird. Von hier, dem Kraterrand des Rano Kao, offenbart sich die ganze Weite des Südostpazifiks – der Blick von der 300 Meter hohen Steilklippe zeigt unermessliches Meer, das langsam aus dem Unendlichen heranrollt, sich gemächlich vor der Küste aufbaut und dann jäh zu wuchtigen Wogen stellt, die an das einzige Hindernis im Umkreis von 2000 Kilometern branden. Auf dem Nabel der Welt war Orongo von jeher Nabel von Glaube und Religion gewesen. An dieser Stelle hatten die Rapanui, wie sich die Einwohner der Osterinsel nennen, in grauer Zeit die Sonne angebetet. Dann schufen sie hier den ersten aller Moais, der gewaltigen Steinfiguren, die sie und ihre Kultur in der Welt berühmt gemacht haben. Und als die Zeit der Moais, kultureller Höhepunkt der Rapanui, nach Katastrophe und Krieg im Chaos geendet hatte, entwickelte sich in Orongo die Antwort auf die Anarchie. Das Zeremoniendorf wurde Zentrum des letzten großen Kultes der Insel, der noch lange nach der Ankunft der Europäer im Jahr 1722 bestand: der Kult des Vogelmanns.

Am Fuß des Vulkans Rano Kao sammelten sie sich, und singend und tanzend zogen sie zum Krater hinauf, die ivi atua, die Priester, die maori rongorongo, die Schriftgelehrten, und die tangata honoui, die Kriegerhäuptlinge der Stämme. Doch keiner dieser Angesehenen, nicht einmal der ariki henua, der König vom Stamm der Miru, war wichtig in jenen Tagen, den Tagen des Wandels von alter zu neuer Macht. Wichtig allein waren die hopu manu, die Wettstreiter.

Jeder jung. Jeder kräftig. Jeder schnell. Sie waren die Besten ihrer Stämme. Unter allen Männern ausgewählt, waren sie im Wettkampf um die Macht zum Stellvertreter ihres Häuptlings bestimmt. In seinem Namen sollten sie um das erste Ei wetteifern, das die Rußseeschwalben in diesem Frühling legten. Dieses Ei, so glaubten die Rapanui, sicherte ihrer Insel Gedeih und Leben; es brachte Fruchtbarkeit, Tieren und Menschen zugleich. Deswegen galt dieses erste Ei als Geschenk Makemakes, als Symbol der Macht. Um es zu bekommen, mussten die Wettstreiter zuerst die Heimat der Rußseeschwalben erreichen: drei winzige Flecken Fels, die knapp zwei Kilometer von der schroffen Steilküste des Vulkans Rano Kao entfernt aus dem Meer ragen, stets umspült von einem schäumenden Gürtel aus Gischt. Motu Kao Kao, nicht mehr als eine Felsnadel, einem im Meer steckenden Splitter gleich. Motu Iti, ein karger Brocken von verwaschenem Grau, von Pfuhlen mit Salzwasser bedeckt. Motu Nui, größte und entfernteste der drei vorgelagerten Inseln, 3,6 Hektar Lava- und Tuffstein, durchzogen von Höhlen, an der Oberfläche kärgliches Grün.

Diese drei Felsen waren jeden September, zu Beginn des Frühlings auf der südlichen Halbkugel, Ziel Hunderter Zugvögel, vor allem von manu tara, wie die Rapanui die Rußseeschwalbe nannten. Dieser Vogel, gekennzeichnet durch sein schwarzes Rückengefieder und einen tief gegabelten Schwanz, lebt ständig auf Hochsee: Monate vermag er allein fliegend zu verbringen, nur für die Brut sucht er sicheres Land. Von jeher zählten die drei Motus zu den Brutstätten des Zugvogels, die für ihn leicht zu erreichen waren. Für Menschen jedoch war der Weg zu den Inseln ein Wagnis, das dem Wahnsinn nahe kam.


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mare No. 53

No. 53Dezember 2005 / Januar 2006

Von Roland Schulz und Jan Feindt

Roland Schulz, Jahrgang 1976, schreibt als freie Journalist für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. Als er begann, dem Vogelmannkult nachzuspüren, schauten ihn die Bibliothekare der Bayerischen Staatsbibliothek belustigt an. Denn die ersten Bücher über die Osterinsel stellten sich als Sammelbände seltsamer esoterischer Theorien heraus. Sie beschäftigten sich mit Außerirdischen und Energiezentren.

Jan Feindt, geboren 1975, lebt als Illustrator und Comic-Künstler in Berlin. Für mare wird er zum Kenner entlegener Schauplätze. In No. 49 bebilderte er die Jagd der britischen Marine nach Sklavenhändler an Afrikas Küsten im 19. Jahrhundert.

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Vita Roland Schulz, Jahrgang 1976, schreibt als freie Journalist für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. Als er begann, dem Vogelmannkult nachzuspüren, schauten ihn die Bibliothekare der Bayerischen Staatsbibliothek belustigt an. Denn die ersten Bücher über die Osterinsel stellten sich als Sammelbände seltsamer esoterischer Theorien heraus. Sie beschäftigten sich mit Außerirdischen und Energiezentren.

Jan Feindt, geboren 1975, lebt als Illustrator und Comic-Künstler in Berlin. Für mare wird er zum Kenner entlegener Schauplätze. In No. 49 bebilderte er die Jagd der britischen Marine nach Sklavenhändler an Afrikas Küsten im 19. Jahrhundert.
Person Von Roland Schulz und Jan Feindt
Vita Roland Schulz, Jahrgang 1976, schreibt als freie Journalist für die Süddeutsche Zeitung und Die Zeit. Als er begann, dem Vogelmannkult nachzuspüren, schauten ihn die Bibliothekare der Bayerischen Staatsbibliothek belustigt an. Denn die ersten Bücher über die Osterinsel stellten sich als Sammelbände seltsamer esoterischer Theorien heraus. Sie beschäftigten sich mit Außerirdischen und Energiezentren.

Jan Feindt, geboren 1975, lebt als Illustrator und Comic-Künstler in Berlin. Für mare wird er zum Kenner entlegener Schauplätze. In No. 49 bebilderte er die Jagd der britischen Marine nach Sklavenhändler an Afrikas Küsten im 19. Jahrhundert.
Person Von Roland Schulz und Jan Feindt