Hilfe, die Nachbarn kommen!

Die Öresundbrücke ist bald fertig. Dänen und Schweden entdecken, dass sie mehr trennt als 16 Kilometer Wasser

Der Turm zu Babel soll eine quadratische Grundfläche und eine Höhe von 90 Metern gehabt haben. Über Sinn und Zweck des Vorhabens verrät die Genesis nur, dass es den Bauherren aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus aus unerfindlichen Gründen darum ging, hoch hinauszuwollen. Fest steht allerdings, dass das Vorhaben nicht an Finanzierungsproblemen oder der mangelnden Einhaltung von Umweltauflagen im Planfeststellungsverfahren gescheitert ist, sondern an der babylonischen Sprachverwirrung – „höhere Gewalt“ nennt das heute der Jurist.

Die Querung über den Öresund, die Verbindung der skandinavischen Nachbarn Dänemark und Schweden, ist ein ähnlich ehrgeiziges Projekt wie der Turmbau. Als die Idee geboren wurde, schüttelten die Experten noch mitleidig die Köpfe. Als hätte jemand vorgeschlagen, den Mars zu besiedeln. Im Sommer 2000 können sie zur Einweihung anreisen. 4050 Meter Tunnel haben die Bauherren gebaut, eine 4055 Meter lange künstliche Insel aufgeschüttet und an 130 Meter hohen Pfeilern eine 7845 Meter lange Brücke aufgespannt. Sinn und Zweck liegen auf der Hand: eine durchgehende Verbindung vom Nordkap nach Gibraltar. Handel und Wandel. Alles geht schneller. Zuverlässiger. Dänemark und Schweden kommen sich näher.

Genau da liegt der Haken. Noch 1994 hat der schwedische Umweltminister Olof Johansson gar versucht, das Vorhaben zu kippen. Vergebens. 1996 begannen die Bauarbeiten auch auf der schwedischen Seite. Da waren die Dänen schon längst in Fahrt. Und nun spüren die Nachbarn mit jedem Meter, den sie sich näherrücken, immer deutlicher, was sie eigentlich trennt. Kurz vor dem Ziel scheinen die Bauherren an ihrem Auftrag zu verzweifeln – das Babel-Syndrom in seiner psychologischen Dimension. Anders als in der Bibel ist die Sprache hier kein Hindernis. Trotzdem versteht man sich nicht mehr.

Zum Beispiel Helsingør am nordöstlichen Zipfel von Sjælland, 50 Kilometer Luftlinie von der Baustelle entfernt. So einen Ort gibt es auf der ganzen Welt nicht noch einmal. Wo alle 20 Minuten Fährschiffe festmachen, die – außer einer Tiefgaragenladung Transitverkehr – ein illustres Heer an schwedischen Passagieren ausspucken, das mit Sackkarren bewaffnet und Leergut beladen anrückt, um sich in den Alkohol-Läden der nahen Fußgängerzone neu zu munitionieren. Nach dem Sturm auf die Spirituosen- und Weinhandlungen rücken die Regimente wieder ab, um Platz zu machen für die nächste Truppe. Das Heer hinterlässt Tag für Tag leere Flaschen und volle Kassen. Was freilich rein gar nichts am dänischen Weltbild zu ändern vermag: „Wir und die da drüben...“

Das „Drüben“ ist im Grunde ziemlich nahe. Man kann, über die knapp fünf Kilometer kleine Meerenge vor Helsingør hinweg, mit bloßem Auge locker das Heizkraftwerk, den Fährhafen und die Innenstadt von Helsingborg in Schweden unterscheiden. Aber dort beginnt nicht nur ein skandinavisches Bruderland, das zudem seit 1995 Mitglied der Europäischen Union ist wie Dänemark seit 1973. Jenseits des Sundes beginnt vielmehr Forbud-Sverige, das „Schweden der Verbote“, eine Art Überbleibsel des Ostblocks sozusagen, mindestens aber das Portal zu etwas überaus Tristem. Helsingør ist deshalb eine Art dänischer Checkpoint Charlie.

Im „Havns Kro“ am Bahnhof steht ein Australier mit offenem Mund am Tresen, denn Wirt Flemming hat es gerade an den Fingern seiner Hände aufgezählt: „Die Schweden sind stocksteif, verklemmt, humorlos, provinziell, langweilig, engstirnig, obrigkeitsgläubig und so unselbstständig, dass sie zwei Stunden zu spät zu Verabredungen kommen, wenn unterwegs eine Rolltreppe stehen bleibt.“

Skål.

„Einer roten Fußgängerampel gehorchen sie noch nachts um drei! Echtes Bier gibt’s erst mit 20, und nur bei einem Juwelier, der allerdings keinen Schmuck verkauft und Systembolaget heißt.“ Auf deutsch: Systemfirma. Flemming kommt in Fahrt: „S-y-s-t-e-m-b-o-l-a-g-e-t! Schon der Name!“

Skål.

„Und mit ihren fetten Volvos schleichen sie mit 50 über die Autobahn, und wenn es dunkel wird, tragen sie im Auto Helme! Nej, vi er ikke som de“, sagt er kopfschüttelnd, „wir sind nicht wie die.“ Der staunende Ausländer muss ja nicht wissen, dass Flemmings Frau von „drüben“ ist, dass er ein Sommerhaus bei Halmstad sein eigen nennt genauso wie ein Exemplar aus der Göteborger Autofabrik. Stattdessen: „Ich habe in Stockholm mal versucht, ein ganz normales Bier zu bestellen“, phantasiert Flemming weiter, und jeder Schwede weiß, was jetzt kommt: „Ich habe Spülwasser bekommen! Und kennst Du schwedisches Brot?“

Skål.


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mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

Von Lasse Dudde

Lasse Dudde, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und lebt in Lübeck und Stockholm. In mare No. 7 beschrieb er das Sicherheitstraining für Segelschullehrer.

Die Karikaturen stammen aus dem satirischen Jahresrückblick Blæksprutten, der seit 1889 das politische Geschehen in Dänemark kommentiert

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Vita Lasse Dudde, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und lebt in Lübeck und Stockholm. In mare No. 7 beschrieb er das Sicherheitstraining für Segelschullehrer.

Die Karikaturen stammen aus dem satirischen Jahresrückblick Blæksprutten, der seit 1889 das politische Geschehen in Dänemark kommentiert
Person Von Lasse Dudde
Vita Lasse Dudde, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und lebt in Lübeck und Stockholm. In mare No. 7 beschrieb er das Sicherheitstraining für Segelschullehrer.

Die Karikaturen stammen aus dem satirischen Jahresrückblick Blæksprutten, der seit 1889 das politische Geschehen in Dänemark kommentiert
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