High-Tech vergangener Jahrhunderte

Im National Maritime Museum von Greenwich ist das Verhältnis von Raum und Zeit auf hoher See greifbar

Die Welt aus den Angeln heben – hier, und nur hier ginge es. Ein einundzwanziger Maulschlüssel dürfte passen auf die sechs schwarzgelackten Schrauben, die es zu lösen gilt. Das Tau, das das Ganze zusätzlich sichert, wäre problemlos und zügig aufgeknotet. Anschließend wäre nur noch ein wenig Kraft nötig. Vier trainierte Männer würden ausreichen für den entscheidenden Schub. In einem unbewachten Augenblick wäre das viele Zentner schwere gusseiserne Rohr um wenige Zentimeter auf seinem Betonsockel verrückt, und der geographische Kapitalfrevel wäre perfekt. Wann er wohl bemerkt würde?

Der Blick durch das gusseiserne Rohr im ehrwürdigen „Alten Königlichen Observatorium“ in Greenwich bei London zeigt nichts Geringeres an als den Nullmeridian, quasi den Urlängengrad. Von ihm sind immerhin die Koordinaten sämtlicher Ortsbestimmungen auf der ganzen Welt abgeleitet, gleichgültig ob sie mit Sextant und Uhr oder mit satellitengestütztem „Global Positioning System“ vorgenommen wurden.

Zugegeben: Der Nullmeridian ist auf dem Vorhof der Sternwarte zusätzlich mit einem Stahlstrang und einer Lichterkette dingfest gemacht, und die Dampfer auf den Weltmeeren würden auch nicht so schnell ihre Kurse verlieren. Aber ein wenig aus den Fugen geraten wäre das Zentrum der einstigen Seemacht und die britische Korrektheit – die hier, in Greenwich, so gar nicht in „understatement“ gekleidet ist.

„Hier wird die Zeit gemacht“, heißt es an einem Eingang des Observatoriums. Und weil das „National Maritime Museum“ im wunderschönen Park zu Greenwich angeschlossen ist an die Sternwarte, ist genau deshalb heute auch ein großer Teil des Museums geschlossen. „Wir bauen um für die Jahrtausendwende“, lautet die allgegenwärtige Begründung, denn „hier beginnt das neue Millennium“. Nach Londoner Lesart wird dies dann passieren, wenn es am 1. Januar im Jahr 2000 Null Uhr schlägt in Greenwich – eine nicht unumstrittene Behauptung. Im Pazifik nämlich, genauer gesagt an der Datumsgrenze, will man die Korken bereits zwölf Stunden früher knallen lassen.

Aber wenn sich ausgerechnet die Engländer schon mal dazu durchringen, eine ihrer traditionsreichsten und königlichsten Institutionen zu modernisieren, wer wollte sie daran hindern? Und so nimmt der Besucher die Einschränkungen im „National Maritime Museum“ klaglos in Kauf. Es ist auch so noch die bedeutendste Sammlung der Seefahrtsgeschichte. Und das Observatorium selbst, navigationsgeschichtlicher Kern des Ganzen, ist nicht betroffen von den Umbaumaßnahmen. Im 17. Jahrhundert wurde es auf dem Hügel über der Themse errichtet, zur Zeit von König Charles II., im Park oberhalb des Palastes, den Charles I. wenig früher für seine Frau Gemahlin hatte bauen lassen. In den Nebengemächern rings um diesen Palast zog vor gut 60 Jahren das „National Maritime Museum“ ein.

Alles spielt sich mithin ab in Gebäuden aus jenem Jahrhundert, in dem die Briten begannen, die Seewege zu erforschen, auf denen sie später die gesamte Welt eroberten. Auf Schritt und Tritt spüren die Besucher, dass es keinen passenderen Ort für die Exponate der königlich britischen Seefahrt geben könnte. Auch wenn die Fernrohre des Old Royal Observatory nicht auf die Weltmeere gerichtet sind, sondern in den Kosmos – es ging in erster Linie um Navigation und Nautik; darum, den Gang der Himmelskörper zu erforschen, an denen sich die Kapitäne in Nord, Süd, Ost und West gleichermaßen ausrichten konnten.

Das hölzerne Teleskop, mit dem der erste hier tätige Astronom, John Flamsteed (1646 bis 1719), die Planetenumlaufbahnen errechnete, lädt den Besucher zum Durchschauen ein – der sich wundert, was er wohl bei Tageslicht darin entdecken würde. Die Antwort: Pluto, in scharfem Bild. Nicht den Planeten, sondern den gleichnamigen Hund von Micky Maus – eines von vielen versteckten Beispielen, mit denen die Museumsausstatter die britische Vornehmheit durch englischen Humor erster Güte neutralisieren.

Zwei Räume weiter das Zelt James Cooks, das jeder kennt, der dessen Logbuch oder einen Roman über den größten Seefahrer aller Zeiten gelesen hat. Am 3. Juni 1769 stand es auf Tahiti, als Cook dort während seiner ersten Weltumsegelung den Durchgang der Venus durch die Sonne dokumentieren sollte. Im Zelt: der Originalquadrant Cooks, der kurz zuvor von Tahitern gestohlen worden war. Genauso verbeult, wie er, noch rechtzeitig, von den Einheimischen zurückgegeben wurde, ist er heute ausgestellt (übrigens: Im Museum läuft zur Zeit auch eine Ausstellung über James Cook, mit einem präzisen Modell seines Schiffes „Endeavour“, vor allem aber mit den Malereien William Hodges, dessen traumhafte Bilder von der zweiten Reise Cooks die ersten Eindrücke exotischer Südseeinseln nach Europa brachten).

Quadranten, Sextanten, Teleskope, auch die legendären Präzisionsschiffsuhren des Tüftlers John Harrisson, der mit diesen damaligen Weltwundern im 18. Jahrhundert das Problem der Längengradbestimmung löste und damit die Grundlage für die heutige Bedeutung Greenwichs legte – all dies ist Spitzen-High-Tech vergangener Jahrhunderte, die von jeweiligen Zeitgenossen in genau diesen Gemäuern begutachtet, kritisiert, besprochen und eingesetzt wurde. Und allesamt Belege des Zusammenhangs von Zeit- und Raumbestimmung auf hoher See. Heute noch geübtes Zeremoniell: Von 1833 bis heute fällt mittags exakt um 13.00 Uhr Greenwich-Zeit auf dem Turm des Observatoriums derselbe große rote Ball an einer Stange herab, damit die Kapitäne der passierenden Schiffe auf der Themse ihre Uhren danach stellen können.

Alle Ausstellungen werden der Würde der Lokalität gerecht. Leben und Tod Nelsons, natürlich, werden in einem eigenen großen Saal gefeiert, wobei den Verantwortlichen offenbar fast unwohl ist: „Is all this propaganda? Who made Nelson? Invasion Fear? Napoleon in London? Chaos and Anarchy?“ laufen hinterfragende Leuchtschriften über ein Band an der Saalwand. Und auch der Held von Trafalgar wird von feinem englischen Humor nicht verschont.

Didaktisch geschickt: In der „All Hands Gallery“ können sich Schulklassen handfest, spielend und lernend an allem austoben, was die Hohe Kunst der Seefahrt ausmacht, ob es um die Simulation von Taucharbeiten oder das Zieltraining an Schiffskanonen geht.

Die Liebe des Museums zum Detail und zum Modell sticht hervor. Zu den Preziosen gehören die zwischen 30 und 80 Zentimeter großen Schiffsmodelle. Etwa 50 sind ausgestellt, 150 besitzt das Haus, nur etwa 400 gibt es weltweit. Die Rede ist nämlich nur – und dies erfährt der Besucher, ganz understatement, nebenbei – von zeitgenössischen Modellen aus der Ära der Entdeckungen. Sie dienten teils als exakte Entwürfe, teils sind es detailgetreue Nachbildungen, Kostbarkeiten allesamt schon deshalb, weil es von den entsprechenden Schiffen keinerlei Pläne oder Berichte gibt. Herausragend ist das sieben Meter lange Modell des Dreimasters HMS „Cornwallis“, der 1810 bis 1813 vom indischen Schiffbaumeister Jamsetjee Bomanjee Wadia in Bombay gebaut wurde. Das Modell hat sein Sohn zur selben Zeit gebaut, und es ist jetzt die eigentliche „Cornwallis“. Der teakhölzerne Großsegler für 590 Mann Besatzung und 74 Kanonen selbst wurde nämlich 1958 (!) abgewrackt und vernichtet.

Und so kann man das National Maritime Museum als das sehen, als was Zoologische Gärten sich längst begreifen: ein Hort der Bewahrung aussterbender Arten, seien es Windjammer oder auch britisches Traditionsbewusstsein.


National Maritime Museum
Greenwich
London SE10 9NF
Geöffnet täglich von 10 bis 17 Uhr,
24. bis 26. Dezember geschlossen.
Informationen unter (0181) 312 65 65

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Ulli Kulke und Angus Mill

Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

Angus Mill ist Fotograf für Kunstschaffende, Architekten und Designer und lebt in London. Außerdem dokumentiert er seine Leidenschaft für und Reisen durch die Wildnis der Arktis auf www.arctic-stories.com.

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Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

Angus Mill ist Fotograf für Kunstschaffende, Architekten und Designer und lebt in London. Außerdem dokumentiert er seine Leidenschaft für und Reisen durch die Wildnis der Arktis auf www.arctic-stories.com.
Person Von Ulli Kulke und Angus Mill
Vita Ulli Kulke, Jahrgang 1952, ist Chefreporter für Wissenschaft der Berliner Tageszeitung Die Welt.

Angus Mill ist Fotograf für Kunstschaffende, Architekten und Designer und lebt in London. Außerdem dokumentiert er seine Leidenschaft für und Reisen durch die Wildnis der Arktis auf www.arctic-stories.com.
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