Herz, Schmerz, Kilohertz

Überwältigende Gefühle: Alljährlich sendet der NDR aus einer Hamburger Seemannsmission an die Seeleute auf den Weltmeeren Weihnachtsgrüße von Angehörigen

Es ist der Nachmittag des dritten, im Saal des „Duckdalbens“ ist schon alles vorbereitet. Wo sonst die Billardtische stehen, an denen die Seeleute den Landgang feiern, weil man an Bord wegen der Wogen nicht spielen kann, stehen nun Tische mit Adventsgesteck, Teller mit Stollen und Kannen voller Kaffee und Tee. Die ersten Gäste treffen ein, grüppchenweise.

Der „Duckdalben“ liegt kurz hinter der Köhlbrandbrücke am Eurokai im Hamburger Freihafen. Der Name der Seemannsmission, die sich als internationaler Seemannsclub versteht, steht in großen roten Lettern auf dem Backsteingebäude. Duckdalben, so nennt man die Pfahlgruppen, an denen früher die Schiffe festmachten, wenn an den Kaimauern kein Platz war. Hier im „Duckdalben“ machen die Seeleute fest. Kleinbusse holen sie von den Schiffen ab und fahren sie an diesen Ort, der ihnen Wärme bietet, Gelegenheit, nach Hause zu telefonieren, ein Bier zu trinken, mit einem Diakon zu reden oder im „Raum der Stille“ zu beten. Im Eingang hängt ein Steuerrad, rechter Hand stehen Telefonkabinen, linker Hand liegt die Bar, deren Decke voller Rettungsringe hängt.

Doch an diesem Nachmittag kurz vor Weihnachten kommen nicht nur Seeleute her, sondern auch Angehörige. Im „Duckdalben“ wird „Gruß an Bord“ aufgezeichnet, die viertälteste Radiosendung der Welt. Es gibt sie seit 1953, ausgestrahlt wird sie an Heiligabend – inzwischen auf NDR Info, auf NDR 90,3 und mehreren Kurzwellenfrequenzen. Damit alle, die Weihnachten auf See sind, die Grüße ihrer Liebsten hören können.

Gut 100 Leute sind gekommen, viele älteren Semesters. Die Seefahrt ist ein traditionelles Gewerbe. Doch auch junge Seemannsfrauen sind dabei, auf ihren Schößen kleine Kinder. Auf der Bühne steht ein Weihnachtsbaum, die Lars-Luis-Linek-Band ist schon bereit, genau wie der Übertragungswagen vor der Tür. Die Moderatoren greifen zum Mikrofon. Aus den Lautsprechern schallen Kirchenglocken und Schiffstuten. So beginnt, was eigentlich ein Phänomen ist.

Eine Sendung, die aus der Zeit gefallen scheint – und es doch nicht ist. Weil das Sehnen nie aufhört und niemand an Heiligabend gern allein ist. „Frohe Weihnachten, hier ist ,Gruß an Bord‘“, begrüßt der Moderator die Zuhörer. „Liebe Seeleute auf den Weltmeeren, auf Passagierschiffen, Containerschiffen, Massengutfrachtern, auf Einheiten der Bundesmarine und Küstenwache, Tankern, Forschungsschiffen und Seenotkreuzern – wir, Ocke Bandixen und Regina König, grüßen Sie ganz herzlich“, stimmt die Moderatorin ein.

An diesem Nachmittag wird es um Botschaften der Liebe gehen, öffentlich vorgetragen und über Kurzwelle auf alle Weltmeere geschickt, wo sie wiederum Wellen schlagen, in den Herzen derer, die fern von zu Hause sind. Die Idee zu der Sendung entstand nach dem Zweiten Weltkrieg, als die deutsche Handelsflotte wieder aufgebaut wurde. Es war eine schwierige Zeit, kurz nach dem Krieg. Familien wurden durch die Seefahrt auseinandergerissen. Die Männer waren oft monatelang fort, der Wunsch, sie zu erreichen, groß und oftmals unmöglich. Die Küstenfunkstation Norddeich Radio war die wichtigste Verbindung. Über sie hielten die Seeleute Kontakt zur Heimat, hörten Wetterberichte, sendeten Notrufe und konnten über diesen Kanal auch manchmal mit ihren Familien sprechen. So kam man bei Norddeich Radio auf die Idee zu „Gruß an Bord“. 1998 wurde die Station abgeschaltet, die Sendung übernahm der NDR.

Die Moderatoren interviewen jetzt ihren ersten Gast: Jan Oltmanns. Der Diakon aus dem „Duckdalben“ erzählt, wie sie im Seemannsclub Weihnachten feiern und wie einmal während der Andacht eine Telefonkabine aufging und ein Seemann den Hörer hinaushielt, damit seine Familie auf den Philippinen hören konnte, wie sie „Stille Nacht“ sangen. Wen er grüßen möchte? „Alle Seeleute auf allen Meeren“, sagt Oltmanns und fügt hinzu: „Vor allem die, die damit beschäftigt sind, dass sie festgestellt haben, dass sie Waffen transportieren müssen.“

Die Seeleute, so der Diakon, wollen wie alle Menschen in Frieden Weihnachten feiern. Wenn sie merken, dass sie, ohne es zu wissen, an Waffentransporten beteiligt sind, sei das „eine ganz schreckliche Sache“. Das Publikum spendet Applaus. Die Band spielt auf – der Sänger singt auf Platt „Wiehnacht an de Waterkant“.

Dann beginnt das Herzstück der Sendung: die Grüße der Angehörigen. Die Moderatoren ziehen dazu von Tisch zu Tisch. Auch zu Familie Peisel. Wie lange Alexander schon nicht mehr zu Hause sei, fragt die Moderatorin. „Jetzt schon fast fünf Monate“, sagt die Mutter. „Einen Monat noch“, fügt sie hinzu, „dann haben wir es geschafft.“ Was sie ihrem Sohn denn wünsche, der als Ober auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet? „Gesundheit, viel Freude, ein gutes neues Jahr, einen guten Rutsch – und dass er uns heile wieder nach Hause kommt“, sagt die Mutter. Das Publikum klatscht.


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Andrea Walter

Andrea Walter, Jahrgang 1976, Hamburger Deern, arbeitet im Berliner Plan-17-Büro und schreibt unter anderem für Stern, Merian und Geo Saison. Seit 2011 ist sie außerdem Textchefin der Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“. Zur Vorbereitung auf den Ortstermin hörte sie sich eine alte „Gruß an Bord“-Sendung an – schon dabei kamen ihr die Tränen.

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Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, Hamburger Deern, arbeitet im Berliner Plan-17-Büro und schreibt unter anderem für Stern, Merian und Geo Saison. Seit 2011 ist sie außerdem Textchefin der Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“. Zur Vorbereitung auf den Ortstermin hörte sie sich eine alte „Gruß an Bord“-Sendung an – schon dabei kamen ihr die Tränen.
Person Von Andrea Walter
Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, Hamburger Deern, arbeitet im Berliner Plan-17-Büro und schreibt unter anderem für Stern, Merian und Geo Saison. Seit 2011 ist sie außerdem Textchefin der Philosophiezeitschrift „Hohe Luft“. Zur Vorbereitung auf den Ortstermin hörte sie sich eine alte „Gruß an Bord“-Sendung an – schon dabei kamen ihr die Tränen.
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