Herrn Andersens Gespür für Grönland

Grönland sagt sich los vom Mutterland Dänemark. Aber kann es sich das finanziell auch leisten? Ein Regierungs­berater aus Kopenhagen will die Inuit fit machen für lukrativen Jagdtourismus – nach afrikanischem Muster

Der Mann, der ihr Leben ändern will, hält ein paar Atemzüge inne. Vorne am Videobeamer steht er, Steen Andersen. Er ist aus Kopenhagen hierhergekommen, nach Qaanaaq, in die nördlichste Stadt von Grönland. Er steht im Gemeindezentrum, in einem Klassenraum mit Tafel und Putzschwamm. Vor ihm sitzen die Jäger Qaanaaqs. Er weiß, dass ihre Lage kalt und aussichtslos ist, er weiß, dass bald nichts mehr ist, wie sie es kennen, dass der Kapitalismus hier Einzug hält, der Turbokapitalismus, Anarchokapitalismus, Harakirikapitalismus. Er weiß, dass sie sich ändern müssen, wie sie sich ändern müssen. Aber er weiß nicht, wo er anfangen soll. Er schweigt, starrt in die Wand. Es ist still, fast beängstigend still. Nur der Videobeamer schnauft leise.

„Die Stadt, die in Alkohol schwimmt“, haben die Zeitungen in Dänemark geschrieben. Die Stadt, in der die Kinder krank durch die Straßen irren, weil die Eltern nicht mehr wissen, was sie tun. Steen Andersen schweigt, starrt in die Wand. Draußen hört er den Schnee, der an den Fenstern streicht. Er reibt sich die Hände warm, er trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, beige Cordhosen und überlegt. Mit einem Satz will er sie wieder heimholen, die Einwohner von Qaanaaq, mit einem Satz will er sie wieder zu Norddänen machen, nachdem die Zeitungen sie als Trinker, Inzestgeile, Kinderquäler ausgebürgert haben, an den gefühlten Rand der Welt.

Damit sie ihm zuhören. Steen Andersen soll ein Projekt vorstellen. Die Grönländer haben die Dänen beauftragt herauszufinden, wie viele Eisbären es noch gibt. Steen Andersen will die Jäger überzeugen, dass sie Proben von Eisbärenfleisch abliefern. An den Proben wollen die Dänen den Bestand analysieren und eine – möglicherweise neue – Abschussquote festsetzen. Die Grönländer wollen sich evaluieren lassen, um zu zeigen, dass sie die Rechte der Tiere achten, dass sie alle Regeln einhalten, die ein richtiger demokratischer Staat einhält, dazu gehören die Menschenrechte, aber auch die Tierrechte. Sie wollen zeigen, dass sie bereit sind für die Unabhängigkeit. Und Dänemark schickt Biologen. Experten allerdings, die sich nicht nur um den Eisbären, sondern auch um eine andere gefährdete Spezies sorgen: den grönländischen Jäger und sein Überleben in der freien kapitalistischen Wildbahn. Seine Existenz ist bedroht, wenn die Unabhängigkeit kommt. Steen Andersen ist eigentlich ein Kapitalismuscoach.

Jährlich überweist Kopenhagen 7000 Euro an Grönlands Selbstverwaltung für jeden ihrer 56 000 Einwohner, ermöglicht so die kollektive Wohlfahrt auf der Eisinsel. Doch was, wenn die Subventionen fallen? Wovon soll Qaanaaq leben? 3000 hauptberufliche Jäger gibt es in Grönland, 50 davon wohnen in Qaanaaq. Die Autonomiebehörde unterhält sie wie Staatsbeamte, kauft ihre Felle, was sonst niemand mehr tut, seit Seehundpelz in Verruf geraten ist, und leistet sich ihretwegen eine teure Infrastruktur in Qaanaaq. Krankenhaus, Polizei, Bank, Schule, Kindergarten, Verwaltung, Supermarkt, Flugplatz. Alles nur wegen der Jäger.

Doch die Jäger kosten nicht nur. Mit ihren Hundeschlitten, ihren Eisbärenhosen und ihrer altertümlichen Sprache geben die Jäger das, was man in Grönland nationale Identität nennt. Heimat, Zusammengehörigkeit, Volkskern. Sie geben der Autonomieregierung den guten Grund, nach Unabhängigkeit zu rufen. Einerseits. Andererseits liefern sie ihr das noch bessere Argument, unter dänischer Obhut zu bleiben. Dänemark ist Mäzen der Jäger. Bewahrer der nationalen Identität. Kann Grönland grönländisch sein ohne dänisches Geld?

Grönland ist grönländisch, wenn es sich lossagt, hält die Autonomieregierung dagegen. Zumindest handelt sie so, spart schon an den Enden des Landes, rationalisiert die Wohlfahrt für die alimentierten Randgebiete, zentralisiert, um den Haushalt schlank zu machen für eine Zukunft ohne Tropf. Schon steigen die Preise in Qaanaaq, noch vor Kurzem kostete ein Pfund Kaffee in Qaanaaq so viel wie in Südgrönland, das Plus an Transportkosten wurde nicht dem Kaffee, sondern dem grönländischen Haushalt aufgeschlagen. Schon wandern die ersten Verwaltungen aus Qaanaaq ab, fusionieren mit anderen im Süden, die Jobs werden weniger. Gibt Grönland Qaanaaq auf? Kann Steen Andersen helfen?

Die bestehende Quote für Eisbären, denkt er, ist zu niedrig. Wenn klar sei, dass die Quote den Bestand der Tiere nicht gefährdet, dann „haben die Tierschützer, die Greenpeace-Leute, die Brigitte Bardots dieser Welt keine Argumente mehr. Dann können wir was Großes hier aufziehen“.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 71. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 71

No. 71Dezember 2008 / Januar 2009

Von Dimitri Ladischensky und Markus Bühler-Rasom

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat einen dänischen Pass und spricht Dänisch. Er war überrascht, wie hell und farbenfroh der grönländische Winter ist. Und wie erträglich die Kälte, zumindest in Eisbärenhosen. Die Jäger ziehen sie nicht aus Folklore an. Keine Kunstfaser, kein Goretex wärmt so gut.

Markus Bühler-Rasom, geboren 1969, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern bei Zürich. Er fotografiert für internationale Magazine und Konzerne. Seit mehr als zehn Jahren verbringt er jährlich zwei Monate in Grönland. Sein größtes Abenteuer erlebte er mit dem Jäger Mikili Kristiansen auf dem Meereis. Der Inuit sprang von seinem Hundeschlitten ab, als er eine Robbe entdeckte, das Gespann mit Bühler-Rasom raste weiter. Der Fotograf, frisch eingewiesen in die grönländische Sprache, rief „arretett!“ – „sitz!“ statt, wie vom Jäger aufgetragen, „ey!“ – „stopp!“. Die Hunde liefen und liefen, Bühler rief und rief. Erst nach zwei Stunden hielten die Hunde irgendwo in der Eiswüste. Bühler-Rasom hatte Glück. Durch einen Zufall kam ein anderer Jäger bei Kristiansen vorbei; sie folgten der Schlittenspur und fanden Bühler-Rasom nach drei Stunden.

Mehr Informationen
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat einen dänischen Pass und spricht Dänisch. Er war überrascht, wie hell und farbenfroh der grönländische Winter ist. Und wie erträglich die Kälte, zumindest in Eisbärenhosen. Die Jäger ziehen sie nicht aus Folklore an. Keine Kunstfaser, kein Goretex wärmt so gut.

Markus Bühler-Rasom, geboren 1969, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern bei Zürich. Er fotografiert für internationale Magazine und Konzerne. Seit mehr als zehn Jahren verbringt er jährlich zwei Monate in Grönland. Sein größtes Abenteuer erlebte er mit dem Jäger Mikili Kristiansen auf dem Meereis. Der Inuit sprang von seinem Hundeschlitten ab, als er eine Robbe entdeckte, das Gespann mit Bühler-Rasom raste weiter. Der Fotograf, frisch eingewiesen in die grönländische Sprache, rief „arretett!“ – „sitz!“ statt, wie vom Jäger aufgetragen, „ey!“ – „stopp!“. Die Hunde liefen und liefen, Bühler rief und rief. Erst nach zwei Stunden hielten die Hunde irgendwo in der Eiswüste. Bühler-Rasom hatte Glück. Durch einen Zufall kam ein anderer Jäger bei Kristiansen vorbei; sie folgten der Schlittenspur und fanden Bühler-Rasom nach drei Stunden.
Person Von Dimitri Ladischensky und Markus Bühler-Rasom
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, hat einen dänischen Pass und spricht Dänisch. Er war überrascht, wie hell und farbenfroh der grönländische Winter ist. Und wie erträglich die Kälte, zumindest in Eisbärenhosen. Die Jäger ziehen sie nicht aus Folklore an. Keine Kunstfaser, kein Goretex wärmt so gut.

Markus Bühler-Rasom, geboren 1969, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern bei Zürich. Er fotografiert für internationale Magazine und Konzerne. Seit mehr als zehn Jahren verbringt er jährlich zwei Monate in Grönland. Sein größtes Abenteuer erlebte er mit dem Jäger Mikili Kristiansen auf dem Meereis. Der Inuit sprang von seinem Hundeschlitten ab, als er eine Robbe entdeckte, das Gespann mit Bühler-Rasom raste weiter. Der Fotograf, frisch eingewiesen in die grönländische Sprache, rief „arretett!“ – „sitz!“ statt, wie vom Jäger aufgetragen, „ey!“ – „stopp!“. Die Hunde liefen und liefen, Bühler rief und rief. Erst nach zwei Stunden hielten die Hunde irgendwo in der Eiswüste. Bühler-Rasom hatte Glück. Durch einen Zufall kam ein anderer Jäger bei Kristiansen vorbei; sie folgten der Schlittenspur und fanden Bühler-Rasom nach drei Stunden.
Person Von Dimitri Ladischensky und Markus Bühler-Rasom