Das vereinigte Europa ist aufs neue geteilt – nicht in Ost und West, Kommunismus und Kapitalismus oder Arm und Reich. Vielmehr prallen derzeit unversöhnlich zwei Weltbilder und Selbstverständnisse aufeinander, die keineswegs an nationalstaatlichen Grenzen haltmachen, sondern ebenso die Gesellschaften innerhalb der europäischen Länder in ideelle Gefolgschaften aufspalten. Politiker, Philosophen, Intellektuelle und Kolumnisten warnen vor einer Auflösung der europäischen Idee und fordern die grundlegende Erneuerung Europas. Die Identität des Kontinents steht auf dem Spiel und damit die Frage: Sollen wir unter Europa ein Rechtsprodukt mit Verträgen verstehen oder das Projekt eines wie auch immer bestimmten Volkswillens? Soll Europa eine Handelszone sein oder eine solidarische Brudergemeinschaft? Die Spaltung Europas ist nur vordergründig ein ökonomisches Problem. Sie ist, bei aller Vorsicht vor Stereotypie, vielmehr eine kulturelle Krise, die in der Ratlosigkeit darüber zum Ausdruck kommt, welcher Geist das Europa der Zukunft fundiert: der festländische oder der mediterrane.
Auch wenn es bei den Auseinandersetzungen der Eurozone mit Griechenland vordergründig um Kredite, Reformen, um Sparauflagen und Wachstum ging, so drehte es sich im Kern doch immer um Ethik: um Handlungsmuster, Normenkontexte und Wertvorstellungen. Immer wieder spuken die kulturellen Erbschaften der Völker in die pragmatisch-nüchternen Verhandlungen über ein künftiges Europa: bei der Definition von Zeit etwa, beim Verständnis von Arbeit und dem Begriff von Ordnung. Die Mentalität des rationalisierten Säkularismus im Westen trifft auf jene patriarchaler Orthodoxie im Osten, und die protestantisch geprägte Erwerbs- und Arbeitsethik des Nordens konkurriert mit dem Prinzip eines epikureischen Individualwohls im Süden.
Die Ressentiments gegen die Hegemonie des auf Effizienz, Leistung und Beschleunigung geeichten Geistes, die lange Jahre im Untergrund des südlichen Euroraums gärten, wurden zum Begriff, als der italienische Philosoph Giorgio Agamben vor zwei Jahren in der französischen Zeitung „Libération“ einen viel beachteten Essay veröffentlichte. Agamben brachte die Idee eines „lateinischen Imperiums“ gegen die deutsche Dominanz in Stellung und forderte einen „Gegenangriff“ Frankreichs, Spaniens und Italiens. Die Idee eines „lateinischen Imperiums“ bietet aus Sicht Agambens all das an, was seiner Meinung nach dem angeblich politisch und wirtschaftlich von Deutschland beherrschten Europa fehlt: Kultur, Sprache, Lebensart, kurz: mediterraner Geist.
Jeder sinnvolle Bestimmungsversuch einer künftigen europäischen Identität hat notwendig mit dem Meer zu tun. Mindestens aus kulturgeschichtlicher Hinsicht entstand Europa aus dem Geist des Mediterranen: Platon und Aristoteles waren Griechen, Plotin Ägypter, Kirchenvater Augustinus stammte aus dem heutigen Algerien, Maimonides aus Andalusien, Averroës aus Marokko. In Athen, Rom und Córdoba formte sich der moderne Bürger als moralisches Subjekt – durch die Zuschreibung unverhandelbarer Würde an jeden Einzelnen, durch die Idee moralischer Gleichwertigkeit aller Individuen, in der Erleuchtung durch Wissen. Nur reicht der Verweis auf die Leistung antiker Philosophie nicht weit in einer Epoche, in der gutes Leben zuerst an ökonomischen Kennziffern abgelesen wird; gegen ein formidables Bruttoinlandsprodukt ist die Stoa ebenso chancenlos wie der Platonismus gegen die Überzeugungskraft eines ständigen Wirtschaftswachstums.
Die Identität und das Selbstverständnis eines neuen, anderen, veränderten Europas könnten weitaus mehr mit dem zu tun haben, was der in Algerien geborene Schriftsteller Albert Camus vor gut 50 Jahren mit seiner Philosophie des „mittelmeerischen Denkens“ anstrebte. Mit aus der Mode gekommenem Pathos schrieb Camus dem Süden eine geradezu zivilisatorische Mission zu: Dessen „Hitze“ sollte den durch Nihilismus gefrorenen Körper des alten Europa wärmen. Der Philosoph der Freiheit liebte die zeitlose Atmosphäre der Strände, das reinigende Meerwasser, die Gerüche der Küstenstädte, die gebräunte Haut. Er pries Freundschaft, Gastfreundschaft und Gegenwartsfreude und setzte die leibliche, hedonistische, tänzerische Lebensintelligenz und Schicksalsbejahung des Südens der dunklen semantischen Ordnungsintelligenz nordeuropäischer Städte entgegen. „Im Frühling wohnen in Tipasa die Götter“, schrieb er in „Hochzeit in Tipasa“. „Sie reden durch die Sonne und durch den Duft der Wermutsträucher, durch den Silberkürass des Meeres, den grellblauen Himmel, die blumenübersäten Ruinen und die Lichtfülle des Steingetrümmers.“
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Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste. Schon als Kind spürte er am Mittelmeer jene Heiterkeit, die Europa nun aus seiner Identitätskrise führen könnte.
Vita | Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste. Schon als Kind spürte er am Mittelmeer jene Heiterkeit, die Europa nun aus seiner Identitätskrise führen könnte. |
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Person | Von Christian Schüle |
Vita | Christian Schüle, Jahrgang 1970, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft und ist literarischer Autor und Essayist. Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“, zuletzt den Essay „Was ist Gerechtigkeit heute?“. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Berliner Universität der Künste. Schon als Kind spürte er am Mittelmeer jene Heiterkeit, die Europa nun aus seiner Identitätskrise führen könnte. |
Person | Von Christian Schüle |