Gummi leidet nicht

Eine moralische Gretchenfrage unserer Zeit: Wie können wir den Tierschutz und den Erhalt unserer Traditionen vereinen?

Am 12. September 2021 fand im Skålefjord der Färöerinseln im Nordatlantik ein gigantisches Massaker statt. Mit Messern und Lanzen bewaffnete Jäger auf Motorbooten trieben Wale und Delfine durch die 14 Kilometer lange Bucht landwärts und begannen im flachen Wasser mit dem Töten. Sie schnitten den zappelnden Tieren Rückenmark und Halsschlagader durch, das Wasser des Fjords färbte sich tiefrot. 

An jenem Sonntag starben mindestens 1428 erwachsene Weißseitendelfine und Dutzende Jungwale. Weltweit herrschte Entsetzen, es hagelte Kritik am gnadenlosen Vorgehen der färöischen Fischer. Die Umweltschutzorganisation Sea Shep­herd sprach von der größten Herde Meeressäuger, die jemals bei einer einzelnen Aktion auf den Färöern getötet worden sei. Die Jagd auf Wale, kritisierte OceanCare, sei sinnlos und verursache großes Leid. Das Massentöten von Walen und Delfinen verstoße gegen Prinzipien des Tier- und Artenschutzes und sei ethisch inakzep­tabel. Kurz: Was auf den Färöern geschehen sei, könne mit der Berufung auf die Tradition nicht verteidigt werden.

Von Kritik wie Empörung wenig beeindruckt zeigte sich Jacob Vestergaard, der zuständige Fischereiminister der Färöer. Er ver­stehe die Aufregung nicht, ließ er in einem Radiointerview wissen. Die Jagd sei gesetzlich reguliert, verlaufe streng nach Regeln und sei nicht kommerziell. Auch wenn Umfragen zufolge eine Mehrheit der Inselbewohner die Fangmethoden ablehnt, wird Kritik von außen als Einmischung in nationale Angelegenheiten empfunden. Die Färöer werten den Versuch, den Walfang zu unterbinden, als Eingriff in ihr Recht auf Tradition und die Art und Weise der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts und kritisieren ihrerseits die Zustände einer keineswegs artgerechten Massentierhaltung und Schlachtung in modernen Schlachthöfen europäischer Länder, gegen die der färöische Walfang harmlos sei. Das Supermarktfleisch stamme von Tieren aus Gefangenschaft, der Grindwal hingegen lebe sein ganzes Leben in Freiheit und sei durch den Rückenmarksschnitt in wenigen Sekunden tot – was Tierschützer allerdings bezweifeln und auf ein stundenlanges, elendes Sterben der Wale und Delfine durch Verbluten verweisen.

Über die schiere Tötung der Tiere hinaus versinnbildlicht dieser Walfang ein moralisches Dilemma in fast allen Teilen der Welt: Tradition gegen Tierschutz. Philosophischer gesagt: die Autonomie lokaler Bräuche gegen das Schutzmandat einer universalmoralischen Lebensethik. Es gibt etliche Beispiele für den Wertekonflikt dieser beiden auf den ersten Blick unvereinbaren Ansprüche an Anerkennung und Respekt – sowohl gegenüber indigenen Traditionen als auch gegenüber Leid und Schmerz der Betroffenen. 

Im Auftrag eines überlieferten Brauchtums werden Tiere seit je erdrosselt, zerschnitten, verbrannt oder als Opfergabe von ­Opferern und Priestern gemeinsam verspeist. Bei „Hundefestivals“ in China werden Tausende Hunde auf brutale Weise getötet, bei Festen in Spanien Stiere mit von Pech brennenden Hörnern durch enge Gassen getrieben, wo sie gegen Steinwände und ­Laternenpfähle rennen und halb verbrannt und traumatisiert zurückbleiben. Beim nepalesischen Gadhimai-Festival hackt man Wasserbüffel, Esel, Schafe und Ziegen aus religiösen Gründen in Stücke, auf der Atlantikinsel Assateague vor den US-Ostküstenstaaten Maryland und Virginia treiben „Salzwassercowboys“ seit 1925 bei Ebbe bis zu 200 Wildponys ins Wasser, die dann minutenlang durch die Assateague-Furt schwimmen müssen. Die Tierschutz­organisation Peta stuft diesen „Pony-Swim“ als grausam, ge­fährlich und infolge des Stresses für die Tiere als gesundheitsschädigend ein.

Ist Grausamkeit gegen Tiere allein dadurch gerechtfertigt, dass es sie schon immer gab? Auf den Färöern geht der „Grindadráp“ genannte Walfang bis zur Wikingerzeit zurück, erste Aufzeichnungen stammen von 1584. Anfangs war das Grindadráp existenziell. Die zu Dänemark gehörenden autonomen Färöer sind ein Archipel von 18 kargen Inseln mit weitgehend unfruchtbaren Böden; Fleisch, Speck und Tran der Wale sicherten die ­Ernährung der Bevölkerung. Nach Zerlegung der getöteten Tiere erhielten alle ihre Anteile. Heute sind die Färöer wohl­habend, ­Lebensstandard und Bildungsniveau gelten als hoch. 

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mare No. 150

mare No. 150Februar / März 2022

Von Christian Schüle

Der Philosoph und Soziologe Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er veröffentlichte eine Vielzahl Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“ und Debattenessays wie „Heimat. Ein Phantomschmerz“. In Kürze erscheint sein philosophisch-­literarischer Essay „Vom Glück, ­unterwegs zu sein – Warum wir das Reisen lieben und brauchen“.

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Vita Der Philosoph und Soziologe Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er veröffentlichte eine Vielzahl Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“ und Debattenessays wie „Heimat. Ein Phantomschmerz“. In Kürze erscheint sein philosophisch-­literarischer Essay „Vom Glück, ­unterwegs zu sein – Warum wir das Reisen lieben und brauchen“.
Person Von Christian Schüle
Vita Der Philosoph und Soziologe Christian Schüle, Jahrgang 1970, ist literarischer Autor und Essayist. Seit 2015 lehrt er Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin. Er veröffentlichte eine Vielzahl Bücher, darunter den Roman „Das Ende unserer Tage“ und Debattenessays wie „Heimat. Ein Phantomschmerz“. In Kürze erscheint sein philosophisch-­literarischer Essay „Vom Glück, ­unterwegs zu sein – Warum wir das Reisen lieben und brauchen“.
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