Gezähmte Wildnis

Es scheint, als verlören wir unser Gespür für die Erhabenheit des Meeres, ja der Natur an sich. Wie konnte es dazu kommen?

Die Natur hat die Menschen schon zu grossen Ideen inspiriert. Sie gab nicht nur Spiritualität oder religiösen Systemen eine geografische und inhaltliche Verortung, sie beeinflusste auch die Philosophie und die Aufklärung, um nur einige Beispiele aus der Menschheitsgeschichte zu nennen. Das Meer – ebenso wie die Berge – spielten für die aufklärerischen Überlegungen eine essenzielle Rolle. Gerade die Idee von Erhabenheit lässt sich visuell nicht treffender betiteln als durch Bilder dieser zwei Naturelemente. Es ist ein spannendes Gedankenspiel, sich vorzustellen, wie die Entwicklung unserer Kulturgeschichte aussähe, wäre die Landschaft auf unserem Planeten eine andere.

Lässt sich letzten Endes nicht jede, zumindest eine große Zahl der kulturellen Etappen an einer (zugegeben manchmal über viele Ecken herantretenden) Bedingung ausmachen, die die Natur beziehungsweise die Landschaft implizierte? Was wäre, wenn sich zum Beispiel weniger viele Denker, Herrscher, Theologen, Künstler, Mediziner oder Philosophen mit der Wirkkraft des Meeres auseinandergesetzt hätten? Gäbe es die Idee von Erhabenheit ohne das Meer überhaupt?

Der Mensch betrachtet und wertet die Landschaft in jeder Epoche anders. Setzt diese sich verändernde Naturrezeption das Haltbarkeitsdatum entsprechender kultureller Ideen fest? In diesem Sinn stellt sich die Frage, welches Bild wir heute vom Meer haben. Oder: Ruft es eigentlich noch Erhabenheit hervor?

Bevor verständlich gemacht werden kann, wie dem Meer seine erhabene Rolle zukam, muss bis hinter die Aufklärung zurückgegangen werden. In eine Zeit, in der das Ferne, Wilde und Ungeordnete anders konnotiert waren, nämlich durch das Gefährliche und Schlechte. Besonders anschaulich beschreibt der kürzlich verstorbene Landschaftsökologe Ludwig Trepl diesen kulturellen Zustand in seinem Buch „Die Idee der Landschaft“. Die Wildnis, wozu auch das Meer zählt, galt bis zum Mittelalter als Ort des Schreckens und des Unheimlichen. Lange war die Wildnis getrennt von der Welt der Arbeit und des Zusammenlebens; die Gemeinschaft grenzte sich gegen die wilde Natur ab, nicht nur geografisch, sondern in erster Linie moralisch. Wer hingegen in die Wildnis ging, wurde selbst wild. Der tiefe Wald war somit auch ein Ort, an dem Dämonen, Tierwesen und mythologische Geschöpfe lebten; er stellte ein Tabu dar. Auch das Meer barg gefährliche Wesen und reichlich Stoff für schaurige Abenteuergeschichten.

Während der Aufklärung änderte sich diese Welteinteilung fundamental und nachhaltig. Der Mensch fand einen Weg, Herr über die Wildnis zu werden, sie mit anderen Augen zu betrachten; er kreierte Möglichkeiten, eine eigene Überlegenheit auszuspielen. Unter anderem brachte die philosophische Ästhetik eine solche Möglichkeit hervor. Ästhetisch attraktiv war nicht mehr nur das Harmonische und Geordnete, sondern immer stärker auch das Ungeordnete, sprich: das Wilde. So schrieb Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“: „Die Natur im ästhetischen Urteil als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben.“ Hierzu zählte er auch Donner, Wolken, Blitze, Orkane und den grenzenlosen Ozean. Diese Naturmächte sind eben so mächtig, weil sie einem unkontrollierbaren, das heißt einem für den Menschen ungeordneten Energiesystem unterliegen, das unberechenbar und teilweise unerklärbar schien.

Das weite Meer ist nicht nur wegen seines Wellengangs und seiner Strömungen gefährlich, sondern auch wegen der unendlich scheinenden Ferne. Seine Unbegrenztheit stand somit auch im ethischen und zivilisatorischen Kontrast zur Begrenztheit der menschlichen Lebenswelt, dem zugehörigen Tagesablauf und seinen Regeln, ihrer Reichweite und den Bedingungen, die der Mensch zum Überleben braucht.

Eine Begrenzung hat immer eine Kontur, eine Form; das weite Meer dagegen war formlos. Nicht nur Kant, sondern auch eine Reihe anderer Denker wie der Schriftsteller Edmund Burke fanden eine Lösung, eine praktische Gebrauchsanweisung für den Menschen, dieses Problems Herr zu werden: Steht der Mensch in sicherer Entfernung zu den Naturgewalten, blickt er etwa von der Küste auf das Meer, kann er den unheimlichen Schauer, den er bei der Betrachtung erfährt, durch seine geistige Kraft in etwas Positives wandeln.

Stark vereinfacht, erklärt sich die Gleichung Meer = Erhabenheit wie folgt: Zu Beginn steht die Unlust, die der Mensch erfährt, betrachtet er die unheimliche Weite und zerstörerische Kraft des Meeres. In diesem Moment ist ihm das Meer nicht nützlich, es ist bedrohlich. Doch diese Unlust birgt eine Lust in sich, wie das Sich-angezogen-Fühlen zu einer Macht, etwa zu Gott. Im zunächst Unangenehmen entstehen Achtung und Lust an der Entdeckung der Größe des betrachteten Objekts. Dieses Gefühl ist nur durch die Vernunft des Menschen erfahrbar. Der Betrachter des Meeres fühlt zwar seine körperliche Unterlegenheit, aber nicht seine kognitive oder moralische. Letztere hält der Macht des Meeres nämlich stand. Die Erhabenheit des Ozeans ist in Wirklichkeit nicht Bestandteil des Ozeans, sondern vielmehr der Vernunft des Menschen. Durch das Betrachten wird er also erhaben.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 123. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 123

No. 123August / September 2017

Von Larissa Kikol

Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.

Mehr Informationen
Vita Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol
Vita Larissa Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, Autorin und Kunstkritikerin. Sie schreibt unter anderem auch für die Zeit und das Kunstmagazin Art. Kikol forscht zur Naturrezeption in der Kultur- und Kunstgeschichte, außerdem beschäftigt sie sich mit Bildern des Meeres in Literatur, Werbung, Kunst und Medien. Zu ihrem Bedauern wuchs sie selbst nicht am Meer auf, „aber wenigstens in der Nähe eines Wellenbads“.
Person Von Larissa Kikol