Es sollte eine Überraschung sein, daher hatten seine Eltern ihm die Augen verbunden. Nun nahmen sie dem elfjährigen Sohn das Tuch ab. Im Sommer 1914 sah Georges Simenon so zum ersten Mal das Meer: von Böen aufgepeitschte Nordseewellen, schaukelnde Fischkutter am diesigen Horizont, Möwen, die im Schlick nach Gewürm pickten. Die Simenons lebten im Kleineleuteviertel Outremeuse der wallonischen Stahlkocherstadt Lüttich. Einen Ausflug ans Meer hatten sie sich bisher nicht leisten können. Das karge Buchhaltergehalt von Vater Désiré sowie die unregelmäßigen Einnahmen, die Mutter Henriette durch Untervermietung an Studenten erhielt, ermöglichten Georges und seinem drei Jahre jüngeren Bruder Christian nur wenige Vergnügen.
Nun stand der junge Simenon am Strand von Ostende, überwältigt von der Magie des Meeres, von der er später schrieb: „Das Meer macht einen betrunken, erdrückt einen, imprägniert alle Körperteile, salzt die Haut und die Lungen, lässt das Blut schneller in den Adern fließen und löst im Gehirn tänzelnde Impressionen aus.“ Der Entschluss war gefasst: Er wollte Seefahrer werden.
Doch die berufliche Karriere verlief anders. In Lüttich ergötzte sich der Jugendliche am Treiben der Schleppkähne auf der heimatlichen Maas und am Geruch von Teer, Harz und Diesel an den Quais. Er zog mit den Schleusenwärtern durch die vom Tabakrauch braun gefärbten Kneipen und suchte als 16-Jähriger jene Backsteinhäuser in Hafennähe auf, hinter deren Gardinen sich Frauen mit Stricken die Zeit vertrieben und auf Kundschaft warteten. „Ich hatte Hunger auf alle Frauen, deren Weg ich kreuzte und deren wippender Hintern genügte, um bei mir fast schmerzhafte Erektionen zu verursachen.“
Eine Erkrankung seines Vaters zwang Georges Simenon, die Schule abzubrechen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Mit 17 wurde er Reporter bei der Lütticher Tageszeitung „Gazette de Liège“. Er war zuständig für die bunt gemischte Lokalrubrik, berichtete über Taschendiebstähle, Bergwerksunfälle, Kaninchenzuchtmeisterschaften und Rekorde im Biertrinken. Für den lang gehegten Wunsch, sich ein eigenes Boot anzuschaffen, reichte das Journalistensalär nicht. Von seinem ersten Gehalt kaufte Simenon sich ein Fahrrad; er hatte noch nie eines besessen.
Die finanzielle Lage besserte sich, als er 1922 Lüttich adieu sagte und nach Paris zog, wo er mit seiner ersten Frau, der Malerin Régine „Tigy“ Renchon, eine Wohnung an der Place des Vosges bezog. Um die Miete zu zahlen, produzierte Simenon wie am Fließband und unter Dutzenden Pseudonymen Kioskromane „mit viel Liebe und Hochzeit am Ende“.
Die Schriftstellerin Colette, literarische Leiterin des Blattes „Le Matin“, hatte ihm geraten: „Mein lieber Sim, merzen Sie alles Literarische aus Ihren Werken aus, und wir werden sie drucken.“ Daran hielt er sich, und die minimalistischen Satzkonstruktionen und der schnörkellose Stil wurden das Markenzeichen seiner späteren meisterhaften Milieuschilderungen. Anfangs von den akademischen Zirkeln gemieden, handelte sich der einfühlsame Vielschreiber den Ruf eines „einsamen Seefahrers der Literatur“ ein.
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Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt in Luxemburg, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit über 20 Jahren auch für die FAZ. Er hat begeistert alle 75 Maigret-Romane gelesen und für eine seiner Reisegeschichten die Pariser Restaurant- und Bistrowelt des berühmten, von Simenon erfundenen Kommissars erkundet.
Vita | Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt in Luxemburg, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit über 20 Jahren auch für die FAZ. Er hat begeistert alle 75 Maigret-Romane gelesen und für eine seiner Reisegeschichten die Pariser Restaurant- und Bistrowelt des berühmten, von Simenon erfundenen Kommissars erkundet. |
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Person | Von Rob Kieffer |
Vita | Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt in Luxemburg, schreibt hauptsächlich Reisereportagen, seit über 20 Jahren auch für die FAZ. Er hat begeistert alle 75 Maigret-Romane gelesen und für eine seiner Reisegeschichten die Pariser Restaurant- und Bistrowelt des berühmten, von Simenon erfundenen Kommissars erkundet. |
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