Genueser Grossstadtfischer

Begehrte Gerichte, meist schnell ausverkauft: Im „FishLab“ im ­Genueser Hafen kommt ausschließlich auf den Tisch, was kurz ­zuvor noch im Meer schwamm

Wer meint, das Mittelmeer sei nur ein größerer Teich, weil richtige Meere Krach machen, möge nach Genua kommen. Hier tobt dieser Teich sogar im Frühling oft noch und tatsächlich krachend laut. Deshalb bleiben hungrige Menschen öfter mal mittags vor dem „FishLab“ stehen, ziehen vergeblich an der Glastür der Imbissbude und lesen den Zettel mit den Öffnungszeiten: „Täglich 11.30 bis 15.30, 18.30 bis 22.30 Uhr, montags geschlossen“. Doch entscheidend ist das Kleingedruckte: „Varia­tionen auf Basis der klimatischen Bedingungen möglich“. Soll heißen: War Mistwetter nachts. Kein Fischer draußen. Komm morgen wieder. Denn was im „Fish­Lab“ in die Brötchen, Frikadelle oder Fritteuse kommt, entscheidet nicht die Tiefkühltruhe, sondern Tag für Tag das Ligurische Meer vor der Haustür. Dieser etwas andere Imbiss mit Wänden 
aus rostigen Stahlplatten und bodentiefen Fenstern sitzt wie ein gestrandeter Con­tainer auf der Promenade am alten Hafen von Genua. Im Rücken liegen die Palazzi der Altstadt, oben braust der Stadtverkehr auf einer Schnellstraße. Und dann sind da die Fischnetze auf der Promenade, die Kutter im Hafenbecken – sehr pittoresk, wenige Schritte vom Ausgang der Metro.

Diese Großstadtfischer haben sogar eine Cooperativa dei Pescatori, und deren Präsident Claudio Orecchia hockt, wenn seine rote „Aquila Pescatrice“, die Fischadlerin, am Kai liegt, gern zwischen den Netzen und flickt Löcher. Als junger Mann war Claudio Tankwart, dann kreuzte Gino auf und sagte „Komm mit mir fischen“. Damit fing alles an. „Ich habe mich in die Fischerei verliebt“, lächelt der 72-Jährige, „mehr als in die Frauen.“ Gino brachte ihm alles über das Meer und die Fische bei, vor allem, „dass man im Meer ein paar Tricks kennen muss. Sind ja nicht dumm, die Fische“.

Zweiter Versuch. Mittagessen im „Fish­Lab“ – bei blendend blauem Himmel. Sogar Tische und Stühle stehen vor der Tür und Axel, Claudios Enkel, hinter dem Tresen. Strahlendes Ragazzo-Lächeln, dann wiegt er bedauernd den Kopf: alles aufgegessen. 13.30 Uhr – zu spät. Ja, sicher, der nonno war nachts draußen, aber er kam mit wenig Fisch zurück, und den hat la mamma am Morgen schon gut verkauft. Axel nickt hinüber zum ­gläsernen Kasten am Kai, dem kleinen Fischmarkt der Kooperative. „A miglio 0“ steht an der Tür, „0 Meilen“, in Anlehnung an das nachhaltige Null-Kilometer-Konzept für regionale Landwirtschafts­produkte.

Was immer sich nachts in Claudios Netzen vor Genuas Küste tummelt, kommt morgens zu seiner Tochter Eva auf den Markt: viele kleine See- und Goldbrassen, Rot- und Meerbarben, aber auch ein paar Seeteufel, Garnelen oder Tintenfische. Kilopreise zwischen fünf und 30 Euro, „Pesce povero“, sagt Eva, arme Fische für arme Leute.

Früher wurde alles, was mittags vom Fang noch übrig war, an Großhändler ge- liefert. Bis eines Tages Touristen vor Evas Kisten standen und fragten, wo sie diesen tagesfrischen Fisch denn essen könnten. Eva stutzte, eine Erleuchtung kann ja so einfach sein: Anstatt sich weiterhin über schlecht zahlende Großhändler zu ärgern, könnten sie ihren Fisch auch selbst ver­arbeiten. Aus dem Netz auf den Teller – die kürzeste aller möglichen Lieferketten endet nun wenige Schritte von Claudios Kutter im „FishLab“, und die gesamte Familie Orecchia rotiert um die Fisch­bude: Claudio fährt, wann immer es möglich ist, nachts raus, Tochter Eva verkauft auf dem Markt, die Enkel Axel und Giada stehen im „FishLab“, frittieren und braten, bedienen hungrige Kunden und hoffen, dass bei Mistwetter nicht gerade ein Reisebus vorfährt.

Evas Rezepte für das „FishLab“ sind hausgemacht. Ihre Lieblinge sind acciu­ghe, Sardellen. „Ein toller Fisch!“, sagt Eva. „So vielseitig und einfach zu entgräten, deshalb essen sogar Kinder acciughe.“ Sie sind der Renner im „FishLab“ – als polpette, die italienische Art der Fischfrikadelle. Allerdings nur im Frühling und Sommer. „Natürlich, irgendwo auf der Welt gibt es immer acciughe“, räumt Eva ein, aber erst ab März schweben sie in silbrigen Schwärmen durchs ligurische Mittelmeer. Und bei aller Liebe: „Alles andere wäre wie Erdbeeren essen im Winter.“ 


Polpette nach Evas Art
Zutaten und Zubereitung (für vier Personen)

1 kg frische Sardellen, 200 g trockenes Brot, 1 Ei, Oregano, Salz, Semmelbrösel, Knoblauch, Öl.
Innereien, Kopf und Gräten entfernen. Filets waschen und fein hacken. Brot in Wasser einweichen, bis es sich auflöst. Mit dem gehackten Fisch, dem Ei, Salz und Oregano zu einer formbaren Masse vermischen. Knoblauch und Petersilie hinzu­fügen. Kugeln in Golfballgröße rollen und leicht flach drücken, dann in Semmelbrösel wenden. Frittieren oder in der Pfanne in Öl von beiden Seiten braten. Dazu Tomatensalat, frische Ciabatta.

FishLab
Belvedere Pertusio 6A (Metro­station Darsena), 16126 Genua, Italien. Telefon: +39 348 888 6176. Di–So 11.30–15.30, 18.30–22.30 Uhr – so das Wetter will.


mare No. 170

mare No. 170Juni / Juli 2025

Von Kirsten Wulf und Roselena Ramistella

Die Journalistin und Buchautorin Kirsten Wulf lebt mit ihrer Familie in Genua.

Roselena Ramistella, Jahrgang 1983, ist freie Fotografin in Palermo.

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