Geliebt, gehasst, gequält

Der blinde Passagier ist als mythische Figur all denen ein Versprechen, die vom Ausbruch aus ihrer Existenz träumen. Und er ist traurige Realität – von Menschen, die auf der Flucht übers Meer ihr Leben riskieren

Er steckt meist nicht in Rettungsbooten, Frachträumen oder Containern, sondern in den Hirnwindungen jener, die sich wegwünschen. Er ist die Fluchtfantasie gekränkter Kinderseelen. Der visionäre Ausstieg der Sesshaften. Das Fernweh der Alltagsmüden. Mehr als auf Schiffe hat er sich in Bücher geschlichen. Der blinde Passagier ist ein Mythos.

„Brackwasser und Salzhauch des Meeres. Der Ruch ferner Küsten und tropischer Seen. Herbst ist es, Regen. Hinaus muss ich wieder, wenn ich nicht an dieser Trostlosigkeit ersticken will.“ Wie im Reisebericht des Seemanns Fritz Iltis („Ich sah die Welt als blinder Passagier“) glänzt der heimliche Mitfahrer in vielen Romanen als Abenteurer und Vagabund.

In Gaunerkomödien spielt er den eleganten Lebemann, der dem Mädchen am Gartenzaun die Welt erklärt. Im ernsthaften Genre taucht er als Agent unter (Hitchcocks „Zerrissener Vorhang“), verschwindet als Opfer (Stevensons „Verschleppt“) oder flüstert im Dunkeln als Alter Ego des Kapitäns: Motiv für das freudsche Unterbewusste; Metapher eines Ichs, das heimlich mit durchs Leben reist – „Der geheime Teilhaber“ von Joseph Conrad. Soweit der schöne Mythos.

Die Holländer nennen ihn verstekeling, die Briten sprechen vom stowaway (von „to stow away“ = verstauen). Für die Russen war er immer der Hase. Begrifflich erscheint der „blinde Passagier“ erstmals 1787 – im Bericht des Thurn- und Taxischen Postkutschendienst. „Blind“ für unsichtbar. So verborgen reiste er einst, dass ihn die Gesetzeshand nicht greifen konnte. Kein „Betrug“, blockten die Gerichte Reederklagen ab, schließlich kann jemand, der nicht nicht da ist, keinen „täuschen oder irreführen“. Und so teerten und federten die Kapitäne manches Phantom in Selbstjustiz. Außerdem fanden sie es ihrerseits nur gerecht, mit einer blinden Passage zu mogeln: „schanghaien“ genannt, nach der chinesischen Hafenstadt. Berüchtigt vor allem in Portland, London und Hamburg im 18. und 19. Jahrhundert. Damals gelangten viele Reeperbahnbesucher unbemerkt an Bord, so heimlich, dass sie selbst nichts mitbekamen. Von Pressgangs mit Alkohol abgefüllt, wurden sie auf hoher See wieder wach, um die Besatzung von Handels- oder Kriegsschiffen zu komplettieren.

Kein Verbrechen, war das Überschmuggeln auch kein Husarenstück. Selten nur, wie bei dem spanischen Pianisten Isaac Albéniz, der sich Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika trickste, wurde es öffentlich beklatscht – als ungewöhnlicher Weg eines ungewöhnlichen Talents. Und zu Entdeckerehren kam allein ein 17-Jähriger, der sich auf Shackletons „Endurance“ schlich.

Meist waren es Wirtschaftsflüchtlinge, damals schon, nur keine aus Afrika. Es waren Europäer, viele Deutsche, die Elend und Armut trieben. „Die völlige Umwälzung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland hat es mit sich gebracht, dass Fälle, in denen sich sog. Blinde Passagiere an Bord unserer Dampfer vorfinden, sich fast auf jedem Dampfer ereignen“, beklagte der Norddeutsche Lloyd in den zwanziger Jahren. „Trotz schärfster Kontrolle“ gelangten sie, als Ladungs- oder Löscharbeiter getarnt, an Bord. Und von dort weiter nach Amerika oder Australien.

Eine „die Deutsche Wirtschaft gefährdende, scharf zu ahndende Tat“. Denn anders als der Schwarzfahrer in Bus und Bahn zahlte der Schiffseinschleicher keine Strafe. Schon damals haftete der Beförderungsunternehmer. Mit 1000 Dollar für jeden in die USA entwichenen Überschmuggler. Für Mitbringsel in die Heimat zahlte der Reeder Gefängnis und Rückreise: Kosten, „deren Höhe völlig unabsehbar ist, weil oft Wochen oder Monate vergehen können, bis sich eine Gelegenheit bietet, den Überschmuggler in das Ausland abzuschieben“, klagte der Norddeutsche Lloyd dem Reichsinnenministerium. „Harry, der Bär aus Nigeria“, wie die Hamburger „Morgenpost“ in den siebziger Jahren titelte, „beförderte mit seinen stahlharten Fäusten erst zwei Beamte, dann noch mal drei Beamte ins Reich der Träume.“ Jahre vergingen, so die „Morgenpost“, bis „die Bremer Behörden drei mutige, in Karate und Judo ausgebildete Polizeibeamte“ finden konnten, die Harry Moses auf einem Schiff nach Nigeria begleiten wollten, mit einer eigens für die Überfahrt konstruierten Zelle, „damit sie auf der dreiwöchigen Reise auch mal ausspannen konnten“.

Die Zahmeren schälten Kartoffeln, schrubbten Planken. Wurden angemustert, wenn sie, ohne Papiere und ohne Aufnahmeland, Dauergast blieben. Den siebenjährigen Kolumbianer Tarcisio Rincón, der sich 1958 auf die „Ciudad de Medellín“ stahl und den keine Hafenbehörde wollte, schulte die Crew zum Smutje um. Und auch mit Nurul Islam aus Bangladesch arrangierte man sich – als Decksjunge für 600 Mark monatlich. Manche gingen als Lebendinventar an neue Schiffseigner über. So unzertrennlich waren die Bande.

Rund 10000 Schwarzfahrer waren in den neunziger Jahren weltweit unterwegs, schätzen Reederverbände. Der Höhepunkt der blinden Migration folgte auf eine Phase europäischer Wirren und Umbrüche. Der Balkan zerfleischte sich im Bürgerkrieg, die Sowjetmacht bröckelte im Inneren, an ihren Rändern lösten sich die Satelliten. Überall putschte das Volk, riss Grenzzäune nieder. Aussiedler aus Rumänien, Albanien, Bulgarien zogen in die Häfen und hofften auf neue Ufer in Kanada oder den USA.

Die Grenzgänger von heute nehmen andere Wege. Sie queren unverhohlen das Meer. Mit Schlauchbooten starten sie von den Stränden Libyens oder der Elfenbeinküste, schiffen zu Tausenden nach Italien oder auf die Kanaren, das Steuer selbst in der Hand. Den heimlichen Trittbrettfahrern sind die Häfen unzugänglich geworden. Seit 2004 greift der ISPS-Code (International Ship and Port Facility Security): Antiterrormaßnahmen für die internationale Schifffahrt, die es nahezu unmöglich machen, unbefugt auf Kaianlagen oder fremde Schiffe zu gelangen. Vielleicht noch 1000 blinde Passagiere waren 2006 unterwegs, hauptsächlich auf den Routen Westafrika–Europa, Hongkong–USA, Griechenland–Italien, Belgien–Großbritannien.

Zwar selten geworden, ist der Blinde noch immer ein Reederschreck. Er ändert die Route, hält in Häfen auf, macht Papier. Und selbst wenn er reibungslos heimgeführt wird, kennt die Presse nur „arme Flüchtlinge und fiese Reeder“, sagt Torsten Klüver von der Hamburger Reederei August Bolten. „Uns kostet es Zeit und Geld. Wir sind die Armen.“

Es fängt mit der Suche an. Vor dem Auslaufen stoppen alle Frachter noch einmal in Hafennähe. Die Mannschaft durchsucht Maschinenraum, Steuerhaus, Wellentunnel, Umkleide, alle Ritzen und Winkel. Zwei, drei Stunden kosten den Reeder – bei einem Tageswert des Schiffes von 24000 Dollar – entsprechend 2000 bis 3000 Dollar.

Das Hamburger Traditionsunternehmen machte Ballastfahrt mit der MV „Nord Spirit“ von Port Harcourt, Nigeria, nach Santos, Brasilien. Zwei Tage nach Auslaufen, am 19. April 2004, klopfte es aus dem Ruderkasten – eine schachtähnliche, offene Ausbuchtung um das Blatt herum, vom Maschinenraum nicht einzusehen, von Wasserseite aus leicht hineinzugelangen. Beliebt, aber gefährlich: Wellen fluten den Kasten. Die Crew löste die Bolzen, machte den Deckel auf: Vier stowaways kamen zum Vorschein.

Klüver informierte seinen P&I-Klub (Protection and Indemnity, Schutz und Entschädigung). Die maritime Haftpflichtversicherung deckt alle Kosten, die blinde Passagiere verursachen. Agenten vor Ort übernehmen den Fall. Als die vier Ungebetenen in Santos einreisten, fehlte die nötige Gelbfieberimpfung. Die darauf fälligen 30000 Dollar Strafe je Einschleicher konnte der brasilianische P&I-Korrespondent zwar auf 4000 drücken. Aber seine Vorarbeit bei den liberianischen Behörden war umsonst – die stowaways sind keine Bürgerkriegsflüchtlinge aus Monrovia, wie behauptet, sondern Wanderarbeiter aus Nigeria. Erst nach Wochen auf Konsulaten, Polizeiämtern und Hafenbehörden hatte er sie rückreisefertig.

Die Kosten: 18.000 Dollar für vier Wochen vier Einzelzimmer im Dreisterne-Hotel. 10.000 Dollar für die vier Wachen vor der Tür. 28.000 Dollar für die Versicherungsagenten. 13.500 Dollar für Konsulate, Dolmetscher, Rechtsanwälte, Wasserschutzpolizei. 30.000 Dollar für vier Linienflüge mit drei Skymarshalls von Santos über Frankfurt nach Lagos. Unterm Strich: 102.532,53 Euro. Davon trägt Bolten den Selbstbehalt von 2940 Euro, den Rest kompensiert die Police. Doch die Prämie für die Flotte steigt, die Fracht wird teurer.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 60. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, 34, ist mare-Redakteur. Seine Recherchen zu diesem Report erwiesen sich als ungewöhnlich schwierig. Blinde Passagiere sind ein Thema, über das man in der Seefahrt nicht gerne spricht.

Mehr Informationen
Vita Dimitri Ladischensky, 34, ist mare-Redakteur. Seine Recherchen zu diesem Report erwiesen sich als ungewöhnlich schwierig. Blinde Passagiere sind ein Thema, über das man in der Seefahrt nicht gerne spricht.
Person Von Dimitri Ladischensky
Vita Dimitri Ladischensky, 34, ist mare-Redakteur. Seine Recherchen zu diesem Report erwiesen sich als ungewöhnlich schwierig. Blinde Passagiere sind ein Thema, über das man in der Seefahrt nicht gerne spricht.
Person Von Dimitri Ladischensky