Geirmundr Höllenhaut und das Internet des Jahres 1000

Schiffbauer, Händler und Entdecker: Die Wikinger waren mehr als raubende Barbaren. Sie erreichten Amerika, Russland und Byzanz. Man darf sie als Pioniere der Globalisierung bezeichnen

Was haben Wladimir Putin und Hillary Clinton gemeinsam? Ihre Bewunderung für die Wikin-ger! „Niemals dürfen wir vergessen, wie schön, talentiert und erhaben wir einst waren“, verkündet Putin im Sommer 2003 in einem Dorf bei Sankt Petersburg. An jenem Ort am Ladogasee haben skandinavische Seefahrer vor rund 1200 Jahren einen Handelsstützpunkt errichtet. Die Wiege Russlands, so Putins Botschaft. In den Adern der ersten Russen floss Wikingerblut.

Auch die Amerikaner feiern sich als Abkömmlinge und legitime Erben der Wikinger. Den „seefahrenden Pionieren“, die als erste Weiße in der Neuen Welt an Land gingen, gebühre Ruhm und Ehre, schwärmt Hillary Clinton, die damalige First Lady der USA, im Frühling 2000 in einer Festrede in New York. Denn die Innovation der Drachenboote, mit deren Hilfe die Wikinger „Menschen und Orte miteinander verbunden“ hätten, seien ein entscheidender Schritt gewesen auf dem Weg in die moderne, globalisierte Welt – das Wikingerlangboot als Beförderer von Information, Erfahrung und Kultur, als „Internet des Jahres 1000“.

Dabei versetzten nordische Krieger wie Geirmundr Höllenhaut oder Erik Blutaxt die Menschheit in Todesangst. 250 Jahre lang hielten die Wikinger die Welt in Atem: Sie fackelten Klöster ab, massakrierten Mönche, erbeuteten mit Edelsteinen besetzte Evangelienbücher und goldene Kruzifixe. Sie zerstörten Siedlungen, meuchelten, soffen, hurten. „Bewahre uns, Herr, vor der Raserei der Wikinger!“, beteten Küstenbewohner im Mittelalter. Die Bibel sagt im Buch Jeremia vorher: „Aus dem Norden wird das Unheil hereinbrechen.“ Auch aus diesem Grund hielten viele die Wikinger für Dämonen, die ihnen der Satan auf den Leib gehetzt hatte.

Ursprünglich ist das altnordische Wort „vikingr“ die Bezeichnung für Seeräuber. Erst mit der Zeit werden alle Bewohner Skandinaviens Wikinger genannt. Egal ob sie als Bauern, Fischer, Händler, Dichter, Söldner tätig sind. Oder eben als Piraten. Nicht selten vereint ein Wikinger viele dieser Berufe in einer Person. Ist es eine Klimaveränderung zu Beginn des neunten Jahrhunderts, die die Landwirtschaft in Nordeuropa in eine Krise stürzt und die Wikinger aufs Meer treibt? Wahrscheinlicher erscheint eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe für ihre Fahrten: Hunger und Gier, aber auch Fortschritte bei Schiffbau und Navigation, Abenteuerlust, Todesverachtung. Gefallene Krieger erwartet nach altnordischem Glauben in Walhall, einer mit goldenen Schilden gedeckten Halle, in der anmutige Walküren ohne Unterlass Wildschweinbraten und Met servieren, ein paradiesisches Leben.

Nur ein Mann, der auf große Fahrt geht, ist im mittelalterlichen Skandinavien sozial geachtet; das Wikingerwort „heimskr maðr“ bezeichnet sowohl einen „Daheimgebliebenen“ als auch einen „Dummen“. Kein Schiff weltweit kann es mit den wendigen, bis zu 13 Knoten schnellen Drachenbooten aufnehmen. Die Wikinger sind die Helden der Ozeane. Die altskandinavische Lyrik kennt allein 50 verschiedene Bezeichnungen für das Meer: „Walstraße“ etwa, „Schwanenpfad“ oder „Ymirs Blut“. Aus dem Leib des sechsköpfigen Urriesen Ymir haben die Götter, so der nordische Schöpfungsmythos, einst die Welt erschaffen: aus seinem Fleisch die Erde, aus seinem Schädel den Himmel, aus dem Gehirn die Wolken und aus dem Blut die Ozeane.

Die Wikinger perfektionieren den Schiffbau. Wohl auch, weil Boote in ihrer von Fjorden zerfurchten Heimat oft die einzig tauglichen Verkehrsmittel sind. Etwa drei Zentimeter dick sind die Klinkerplanken, die sie wie Dachziegel verbauen. Die Rahsegel fertigen sie aus Schafwolle und imprägnieren sie mit Pferdefett. Der Drachenkopf am Bug soll bei der Überfahrt böse Geister abschrecken.

Klassische Wikingerboote sind bis zu 30 Meter lang, etwa vier Meter breit und bieten rund 100 Kriegern Platz. Ihre mit Eisenbuckeln beschlagenen Rundschilde hängten die Männer an die Bordwand – griffbereit für die nächste Schlacht. „Ihre Schwerter sind mit Blutrinnen versehen“, notiert ein persischer Diplomat 922 über die nordischen Seeräuber, die Männer selbst „vom Fingernagel bis zum Hals mit Tätowierungen dunkelgrün gefärbt“.

In der altisländischen „Egils Saga“ ist ein geselliger Abend unter Wikingern dokumentiert: Es wird Bier gesoffen, bis der Held Egil nicht mehr kann. Er steht von der Tafel auf, geht zu seinem Gastgeber hinüber und erbricht sich „gewaltig in Armods Antlitz, in die Augen und in die Nase und in den Mund“, heißt es in der Saga. „Armod verlor fast den Atem, und als er wieder Luft bekam, musste auch er gewaltig speien. Dann ging Egil zu seinem Platz und bat, ihm zu trinken zu geben.“

Meist kämpfen die Wikinger in Horden von wenigen hundert Mann. „Wie reißende Wölfe fallen sie über das Abendland her“, berichten Chronisten. Gefürchtet ist ihre Blitzkriegtaktik, die berühmt-berüchtigten „strandhöggs“ („Strandhiebe“): Ihre Schiffe rasen auf die Küste zu, Krieger springen an Land. Mit Gebrüll stürmen sie Wohnhäuser, Hütten oder Klostergebäude, fallen mit Speer, Lanze, Schwert, Streitaxt über ihre Opfer her. Sie plündern, morden, legen Feuer und stechen wieder in See.

Doch die Raubmörder und Plünderer sind nur eine Minderheit, werden Mittelalterhistoriker viele Jahrhunderte später herausarbeiten. Auch wenn spektakuläre Überfälle ihren Ruf prägen, in erster Linie sind die Wikinger „kopmans“, Kaufleute. Sie brillieren als frühe Kapitalisten, Händler und Entdecker. Auf ihren Drachenbooten dringen sie in alle Himmelsrichtungen vor, erreichen Amerika, Russland, Byzanz, Spanien. Und durch die Gründung einer Art frühmittelalterlichen Hanse werden sie zu Pionieren

der Globalisierung. Wie clevere Manager eines multinationalen Konzerns kurbeln sie den frühmittelalterlichen Welthandel an: Die Wikinger verkaufen Pelze, Schwerter, Honig. Sie handeln mit Elchgeweihen und Walrosszähnen, Salz aus Frankreich, Speckstein von den Shetlandinseln, Wein aus dem Rheinland, Seide aus Byzanz.

Aber sie sind nicht nur ehrbare Kaufleute, sondern auch ausgesprochene Ästheten. Im Isländischen heißt der Samstag bis heute „laugardagur“, „Badetag“. Der Waschzwang der Wikinger ist den Angelsachsen suspekt, denn Waschen gilt ihnen als Eitelkeit und damit als Sünde. Der mittelalterliche Chronist John of Wallingford mokiert sich darüber, dass die Dänen allzu reinlich seien. Auch den schönen Künsten sind die Wikinger zugewandt. Die Sagas zeugen davon.

Um das Jahr 1000 reicht das Einflussgebiet der Wikinger von Neufundland in Nordamerika bis in die Steppen Zentralasiens und von Grönland bis ans Mittelmeer. Sie befahren die nördlichen Gewässer vom Labradorstrom bis zum Eismeer und die europäische Atlantikküste bis Gibraltar. Sie dringen ins westliche Mittelmeer ein und über die Flüsse von Großbritannien und Kontinentaleuropa bis ins Herz von Westeuropa. Außerdem gelangen sie über Wolga und Dnjepr ins Schwarze und Kaspische Meer, von wo aus sie Byzanz bedrängen. Immer geht es ihnen um Profit, sei es friedlich oder mit Gewalt.


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mare No. 88

No. 88Oktober / November 2011

Von Till Hein und Christian Schneider

Autor Till Hein, 1969 geboren, lebt in Berlin. Wikingern ist er seit der Lektüre seines Lieblingscomics Hägar der Schreckliche hoffnungslos verfallen.

Der Hamburger Illustrator Christian Schneider, Jahrgang 1978, interessiert sich sehr für das Genre der Expeditionszeichnerei. Auch unser Kindermagazin mare aHoi! No. 3 beschäftigt sich mit den Wikingern.

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Vita Autor Till Hein, 1969 geboren, lebt in Berlin. Wikingern ist er seit der Lektüre seines Lieblingscomics Hägar der Schreckliche hoffnungslos verfallen.

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Person Von Till Hein und Christian Schneider
Vita Autor Till Hein, 1969 geboren, lebt in Berlin. Wikingern ist er seit der Lektüre seines Lieblingscomics Hägar der Schreckliche hoffnungslos verfallen.

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