Für immer fern der Heimat

Im Ausland belächelt, zu Hause umstritten: Seit 1941 hat das Binnenland Schweiz eine eigene Hochseeflotte

Der 9. April 1941 schien endlich wieder ein ganz normaler Tag für die „Calanda“ zu werden. Nach der Aufregung der letzte Tage konnte die Mannschaft aufatmen. Der Frachter unter panamaischer Flagge hatte Kohlen in den USA geladen, die im italienischen Hafen Savona für die Schweiz gelöscht werden sollten. Den Atlantik hatte sie unbeschadet durchfahren, doch hinter Gibraltar, längs der spanischen Küste, war es ungemütlich geworden. Irgend etwas ging da vor sich: Mitten in der Nacht umgaben dunkle Silhouetten im weiten Halbkreis das Schiff, Flugzeuge dröhnten und ließen ihre roten Suchscheinwerfer übers Meer huschen. Kurz darauf der Befehl der Briten: Zurück nach Gibraltar! Dort kam die nächste Order: Nun mit direktem Kurs nach Savona! Hatte die „Calanda“ eine Seeoperation gestört? Nichts hassten die Briten so sehr wie Spionage durch Handelsschiffe.

Da übermittelte die Küstenstation Lissabon dem Funker Chevalier eine Nachricht aus der Heimat, mit der niemand gerechnet hatte: Die Schweiz hatte eine eigene Handelsflotte gegründet! Und die „Calanda“ war das erste für die Schweiz fahrende Schiff, dem die Nachricht zugefunkt wurde. Der Kapitän ordnete sofort eine Feier an, und ein verkleideter Neptun mit Krone und Dreizack hisste die Schweizer Flagge. Die „Calanda“, dieser alte Pott, war die Nummer eins der neuen Flotte. Die Mannschaft war mächtig stolz, und im Glanz der eidgenössischen Flagge machte ihr Schiff gleich viel mehr her. Ihre „Calanda“ war eine First Lady, und eigentlich war sie doch ein stolzes, in Würde gealtertes Schiff.

Die Schweiz hat ihre Flotte aus einem einzigen Grund geschaffen: um Hunger und Not abzuwenden. Und trotzdem haben sich die Schweizer für ihre Hochseeschiffe immer rechtfertigen müssen, drinnen und draußen. Bereits 1943 – damals war die Flotte knapp zwei Jahre alt – forderten Schweizer Spediteure, dass die Handelsschiffe nach dem Krieg verkauft werden sollten: „Die Schweiz ist ein Binnenland!“ Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gaben eidgenössische Unternehmer zu bedenken, dass sie seit jeher auf die kontinentalen Märkte orientiert seien, der Rhein sei ihnen genug und Rotterdam das Tor zur Welt.

In Großbritannien witzelten die englischen Reeder darüber, dass ein Alpenland Frachtschiffe auf dem Atlantik brauche. Amüsiert lasen sie 1947, wie der „News Chronicle“ die eidgenössischen Schiffe als die „merkwürdigste Flotte der Welt“ bezeichnete. Doch die Schweizer, hieß es weiter, hätten in den sechs Jahren seit Gründung ihres Schiffsregisters viel von der englischen Seepraxis gelernt. Eine feine Ironie war das – aber nicht ganz fair, schließlich hatten britische Werften damals gerade Aufträge für zwei Schweizer Schiffe bekommen, die die eidgenössische Flotte von sechs auf acht Einheiten vergrößerte. Doch unbeirrt hielt der Bundesrat in Bern an seinem Plan fest. Die Flotte mit dem Schweizerkreuz wuchs und wuchs – und wurde die größte aller Binnenstaaten weltweit.

Es war ein langer Weg, denn die Sache mit der Flotte hatten sich die Schweizer fast achtzig Jahre lang überlegt. „Das freie Meer befreit den Geist“, heißt es im zweiten Teil von Goethes „Faust“, was dem demokratischen Schweizer Bundesstaat, der 1848 mitten im monarchistischen Europa gegründet wurde, die Richtschnur gewesen sein mag. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts machten sich die Politiker in Bern intensiv Gedanken über eine eigene Schweizer Flagge zur See. Fuhren nicht Jahr für Jahr Tausende Schweizerinnen und Schweizer auf erbärmlichen Schiffen über den Atlantik, um in der Neuen Welt ihr Glück zu suchen? Hatte sich nicht der Sankt Galler Daniel Steinmann als Auswanderer-Agent in Antwerpen niedergelassen und eine Linienreederei gegründet? Waren im Freihafen des italienischen Ancona nicht zahlreiche Schweizer Unternehmen angesiedelt, darunter die Firma Jenny & Blumer, die 1857 mit dem Dreimaster „Helvetia“ das größte Handelsschiff des Mittelmeeres in Betrieb nahm? Schweizerische Schiffe auf den Meeren gab es viele. Nun wollten die Eidgenossen auch Flagge zeigen.

Zwar hatte die Berner Regierung bereits 1850 erlaubt, dass die „Wilhelm Tell“ des Schweizer Kapitäns James Funk und die „Helvetia“ der Firma Whitlock, beide mit Heimathafen New York, unter dem Schweizer Kreuz fuhren. Dennoch wollte sie behutsam zu Werke gehen. Obwohl die Meere seit Erscheinen des epochemachenden Werks „Mare liberum“ von Hugo Grotius Anfang des 17. Jahrhunderts als frei galten, fragte der Bundesrat 1862 bei den Großmächten der Seefahrt an, wie sie über die Schweizer Flagge auf den Weltmeeren denn so dächten. Das war höflich, aber der rauhen Atmosphäre der Seefahrt vielleicht nicht ganz angemessen. Am fleißigsten war Konsul Heymann in Bremen, der einer hieb- und stichfesten Analyse der Flottenfrage einige Leerformulare der Bremer Hafenwirtschaft als Muster für die unerfahrenen Schweizer beifügte und nicht vergaß zu erwähnen, dass Macht und Recht auf den Meeren zweierlei Ding seien. Der Konsul in Le Havre fragte amüsiert zurück, wie die Schweiz denn ihre Schiffe auf den Weltmeeren zu schützen gedenke? Unverschämt und direkt war die Reaktion des französischen Außenministers: Eine eigene Flagge auf den Meeren stehe der Schweiz nicht zu – es fehle die Kriegsmarine, die die Handelsflotte verteidigen könne. Die Schweiz hatte eine Abfuhr bekommen.

Es ist heute schwer zu verstehen, warum sich die Schweiz von den eigennützigen Reaktionen der europäischen Staaten beeindrucken ließ. War der Drang zum Meer nicht stark genug? Erkannte die Regierung nicht die Vorteile, die eine neutrale Flagge in Kriegszeiten bedeutete? Die in Triest niedergelassenen Schweizer Unternehmer, Werfteigentümer und Schiffbauingenieure schrieben an den Bundesrat, sie müssten ohne eine eidgenössische Flagge zur See wohl oder übel die schweizerische Staatsangehörigkeit aufgeben, um in ihrem Gewerbe zu bleiben. Doch es nützte alles nichts, die Bundesversammlung verzichtete im November 1864 auf eine definitive Entscheidung in der Flaggenfrage. Der Bundesrat expedierte seine Pläne ins Archiv, und Steinmann in Antwerpen musste seine bald 30 Schiffe weiter unter belgischer Flagge nach Amerika segeln lassen. Doch wehte das Schweizerkreuz – wozu war der Mann Eidgenosse? – als Hausflagge seiner „White Cross Line“ von den Masten.

Vielleicht lag der eigentliche Grund des Scheiterns darin, dass die Schweiz den zweiten Schritt vor dem ersten machen wollte. Das Land besaß damals keinen schiffbaren und zugleich sicheren Weg zum Meer. Es ist heute fast vergessen, dass der Oberrhein nach der Tullaschen Rheinkorrektion aufgrund des starken Gefälles und der Stromschnellen im Ruf eines „unüberwindlichen Wildwassers“ stand. Als im August 1903 auf Betreiben des Schweizer Ingenieurs Rudolf Gelpke die „Justitia I“ als erster Schraubendampfer seit 1845 Basel erreichte, strömten Tausende begeisterter Menschen an die Rheinufer. Es war wie ein „Gruß von der See“, schrieb die Basler Zeitschrift „Strom und See“ viele Jahre später. In den 20er Jahren konnte Gelpke die Strecke von Basel nach Straßburg durch Begradigung, Abbau von Hindernissen, Eindeichung und den Umbau der Brücken schiffbar machen und dem Alpenland einen sicheren Weg zum Meer erschließen. In der Folgezeit wurde die Strecke Basel–Rotterdam zur festen Größe der Exportwirtschaft.

Auch auf der politischen Ebene hatte sich inzwischen die Lage entscheidend verändert. Die Barcelona-Deklaration von 1921 garantierte allen Staaten ohne Meeresküste das Recht auf eine eigene Seefahrtsflagge. Als gegen Ende der 30er Jahre die Spannungen in Europa immer mehr zunahmen, stand für die Schweiz die Gründung eines eigenen Schiffsregisters außer Frage. Denn bei einem militärischen Konflikt war ein neutraler Staat – der Erste Weltkrieg hatte es gezeigt – fast ganz auf sich allein gestellt. Nur wenige Schiffe fuhren damals unter fremder Flagge für die Schweiz: der Getreidefrachter „St. Cergue“, die „Albula“ und der Kohledampfer „Maloja“, ein Veteran von 1906.

Der Rhein, die neue Lebensader der Schweiz, erwies sich in Kriegszeiten als Achillesferse: Deutschland unterbrach im September 1939 die Schiffahrt von Karlsruhe bis Basel. Ein Drittel des gesamten Außenhandels fiel mit einem Schlag fort. Auch der Rhein-Rhône-Kanal war durch die Blockade unerreichbar geworden. Die Schweiz war von den Nordsee- und den Mittelmeerhäfen abgeschnitten.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Henning Sietz

Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg. In mare erschien zuletzt „Neue Bäder heilen gut“, die Geschichte der deutschen Seebäder (No.8).

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Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg. In mare erschien zuletzt „Neue Bäder heilen gut“, die Geschichte der deutschen Seebäder (No.8).
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Vita Henning Sietz, Jahrgang 1953, studierte Slawistik und arbeitet als freier Journalist in Hamburg. In mare erschien zuletzt „Neue Bäder heilen gut“, die Geschichte der deutschen Seebäder (No.8).
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