Fremde Stadt, vertraute Stadt

Wie wirklich ist das Venedig der Touristen? Eine Bildergalerie und ein Essay aus der Zeit vor der Pauschalreise

Fast jeder Venezianer, selbst ein Kind, wird alles stehen und liegen lassen, um einem irgendetwas zu zeigen. Sie weisen einem nicht nur den Weg, sie führen einen oder folgen einem sogar zuweilen, um sich zu vergewissern, dass man nicht falsch geht. Ihre größte Angst ist, dass man eine künstlerische oder „typische“ Sehenswürdigkeit verpassen könnte. Ein Küster, der bereits sein Trinkgeld bekommen hat, wird einen nicht verlassen, bevor man den letzten Palma Giovane gesehen hat. Der „Papst“ der Chiesa dei Greci ruft von der Straße aus seiner Haushälterin zu, sie solle ihm seinen schwarzen Hut zum Fenster hinauswerfen, und setzt ihn sich fest in die breite Stirn, damit er uns persönlich zu dem Archäologischen Museum auf dem Markusplatz führen kann; er befürchtet, wir könnten, wenn er sich nicht darum kümmert, die griechischen Plastiken dort verpassen.

Das ist venezianische Höflichkeit. Fremde, die hier lange gelebt haben, bemerken dazu nur: „Sie haben nichts anderes zu tun.“ Aber die Nichtstuer sind hier äußerst wach, halten immer Ausschau nach Leuten, die etwas besichtigen wollen; nichts entzückt einen geborenen Venezianer so sehr wie eine freie Fahrt in einer Gondola. Wenn die Begräbnis-Gondel, ein großer schwarz-gold verzierter Leichenwagen, vor einem Haus anlegt, so ist das ein ästhetischer Genuss. Die Gegend, in der ich wohnte, war in dieser Hinsicht besonders begünstigt, weil sich gegenüber des Campos das Männer-Altenheim befand. Jeder wird den venezianischen Geschmack in der Auslage von Waren bemerkt haben, der sich bis auf den ärmsten Kahnbesitzer erstreckt, der seine Wassermelonen halbiert und sie, blassrosa mit grüner Rinde, am grünen Nebenkanal zur Schau stellt, in dem sich ein rosa Palast mit Oleanderbäumen spiegelt. Che bello, che magnifico, che luce, che colore! – (Wie schön, wie herrlich, welches Licht, welche Farben!) – Sie sind alle professori delle Belle Arti (sie sind alle Kunstprofessoren). Und in ganz Venedig, in den alten venezianischen Kunstschätzen, wuchert dieser interne Tourismus, diese Sachverständigkeit. In Bassano, im Stadtmuseum, hielt ich den Bürgermeister für den lokalen Kunstkritiker, bis er seinen Vortrag über die Juwelentöne („wie Murano-Glas“) in den Landschaften Bassanos unterbrach, um auf die Uhr zu schauen und auszurufen: „Meine Bürger rufen nach mir.“ Unweit davon seufzte in einer palladischen Villa eine venezianische Dame: „Ah! Bellissima!“ beim Anblick eines Kaminschemels in Form eines lebensgroßen, ausgestopftem ledernen Schweins. In Harry’s Bar gibt es ein Getränk, das Titiano heißt, es besteht aus Sekt und Grapefruitsaft und wird mit Grenadine oder Angostura rosa gefärbt. „Sie sollten einen Tintoretto haben“, reklamierte jemand, und der Barbesitzer bedauerte, noch keinen solchen Drink erfunden zu haben, jedoch gäbe es einen Bellini und einen Giorgione.

Wenn die Venezianer am Abend spazieren gehen, so meiden sie nicht etwa den Markusplatz, wo die Touristen sind, wie das die Römer mit dem Doney-Lokal auf der Via Veneto tun. Die Venezianer sehen sich die Touristen an, und die Touristen betrachten sich die Venezianer. Diese Stadt ist etwas fürs Ohr und fürs Auge, aber primär fürs Auge. Auf dem Wasser gebaut, ist sie eine endlose Folge von Reflex und Echo, eine Spiegelung. Im Gegensatz zu der allgemeinen Annahme gibt es keine rückwärtigen Kanäle, wo Touristen sich nicht, kamerabewaffnet, in der Person anderer Touristen auf der kleinen Brücke wiederbegegnen. Und in dieser Stadt wird kein Wort gesprochen, das nicht das Echo eines Ausspruchs wäre, der schon einmal getan wurde. „Aber es ist ebenso teuer wie in Paris!“, ruft im Restaurant ein Franzose aus, ohne zu ahnen, dass er Montaigne wiederholt. Die Klagen gegen Fremde, von Fremden erhoben, tönen nörgelnd durch die Jahrhunderte, im Verein mit der Stimme des mittelalterlichen Mönchs, der den Markusplatz voll von „Türken, Libyern, Parthern und anderen Seeungeheuern“ fand. Heute beklagen wir uns über die Deutschen, und zweifellos klagen sie mit den gleichen Worten über die Amerikaner.

Nichts lässt sich (einschließlich dieser Feststellung) sagen, was nicht bereits gesagt worden ist. Häufig hört man, dass die Piazza einem Freilichtsalon gleicht; die Bemerkung geht auf Napoleon zurück, der sie den „besten Salon Europas“ nannte. Ein Freund vergleicht die dekorativen Kuppeln der Markuskirche mit Meeresschaum, aber Ruskin dachte als erster daran: „... endlich, wie in Ekstase, lösen sich die Kämme der Kuppeln in marmornen Gischt auf und schleudern sich weit in den blauen Himmel hinauf, in strahlenden Bögen gemeißelten Schaums ...“ Ein anderer Freund findet, dass die Gondeln wie Leichenwagen aussehen; der Vergleich beeindruckte mich durch seine Originalität, bis ich ihn zwei Tage später, bei Shelley, als „Totenbarke“ wiederfand. Jetzt finde ich so etwas überall. Ein junger Mann, der den Vaporetto besteigt, seufzt, dass „Venedig so städtisch ist“, eine Bemerkung, die zumindest originell klingt und zweifellos auch war, als Proust von dem „stets städtischen Eindruck“ sprach, den Venedig, inmitten des Meeres, machte. Und das schlimmste ist, dass fast alle diese Klischees auf Wahrheit beruhen. Es stimmt beispielsweise, dass die Markuskirche bei Nacht wie eine Theaterkulisse aussieht; das ist etwas, das jedem auffällt und wovon jeder denkt, es sei sein ganz persönlicher Einfall. Ich erröte, wenn ich an den eitlen Klang meiner Stimme denke, als ich vor neun Jahren auf der Piazza denselben Vergleich anstellte.

„Ich beneide Sie, dass Sie über Venedig schreiben“, sagt der Neuankömmling. „Sie tun mir leid“, sagt der Kenner. Eines ist gewiss: Eine spitzfindige Einstellung, die moderne Art von Spitzfindigkeit, die originell, paradox und konträr sein will, ist für Venedig nicht möglich. Mit der Zeit macht gerade dies den Charme des Ortes aus. Man gibt den Kampf auf und fügt sich einer klassischen Erfahrung. Man findet sich damit ab, dass, was man im Begriff ist zu sagen oder zu empfinden, nicht nur bereits von Goethe oder Musset gesagt worden ist, sondern auch jedem Touristen aus Iowa auf der Zunge liegt, der mit seiner pelzstola- und brillantnadelgeschmückten Frau die Piazzetta betritt.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Mary McCarthy und Gianni Berengo Gardin

„Die vielleicht gescheiteste Frau, die Amerika je hervorgebracht hat“, schrieb das Magazin Esquire über die 1912 in Seattle geborene Autorin und Literaturkritikerin Mary McCarthy. International bekannt wurde sie durch ihren Roman Die Clique (1963, deutsch 1968). Sie schrieb zahlreiche Rezensionen und Essays; für den Schriftsteller Norman Mailer war sie „our first Lady of Letters“. Ihre Venedig-Betrachtung Venice observed erschien erstmals 1956 und wurde 1999 auf Deutsch neu aufgelegt. Mary McCarthy starb 1989 in New York.

Der 1930 geborene Gianni Berengo Gardin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Fotografen Italiens. Nach einer Karriere als Mode- und Werbefotograf wandte sich der in Mailand lebende Gardin Architektur- und Landschaftsaufnahmen zu. Seine Venedig-Impressionen sind in den sechziger Jahren entstanden. Er veröffentlichte mehr als 140 Bücher; einige seiner Arbeiten sind im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Exklusiv für mare porträtierte er in Heft No. 12 die Hafenstadt Triest.

Die Textauszüge entstammen Mary McCarthys Buch Venedig, 1999 bei Droemer neu aufgelegt (192 Seiten, 24 Mark)

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Vita „Die vielleicht gescheiteste Frau, die Amerika je hervorgebracht hat“, schrieb das Magazin Esquire über die 1912 in Seattle geborene Autorin und Literaturkritikerin Mary McCarthy. International bekannt wurde sie durch ihren Roman Die Clique (1963, deutsch 1968). Sie schrieb zahlreiche Rezensionen und Essays; für den Schriftsteller Norman Mailer war sie „our first Lady of Letters“. Ihre Venedig-Betrachtung Venice observed erschien erstmals 1956 und wurde 1999 auf Deutsch neu aufgelegt. Mary McCarthy starb 1989 in New York.

Der 1930 geborene Gianni Berengo Gardin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Fotografen Italiens. Nach einer Karriere als Mode- und Werbefotograf wandte sich der in Mailand lebende Gardin Architektur- und Landschaftsaufnahmen zu. Seine Venedig-Impressionen sind in den sechziger Jahren entstanden. Er veröffentlichte mehr als 140 Bücher; einige seiner Arbeiten sind im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Exklusiv für mare porträtierte er in Heft No. 12 die Hafenstadt Triest.

Die Textauszüge entstammen Mary McCarthys Buch Venedig, 1999 bei Droemer neu aufgelegt (192 Seiten, 24 Mark)
Person Von Mary McCarthy und Gianni Berengo Gardin
Vita „Die vielleicht gescheiteste Frau, die Amerika je hervorgebracht hat“, schrieb das Magazin Esquire über die 1912 in Seattle geborene Autorin und Literaturkritikerin Mary McCarthy. International bekannt wurde sie durch ihren Roman Die Clique (1963, deutsch 1968). Sie schrieb zahlreiche Rezensionen und Essays; für den Schriftsteller Norman Mailer war sie „our first Lady of Letters“. Ihre Venedig-Betrachtung Venice observed erschien erstmals 1956 und wurde 1999 auf Deutsch neu aufgelegt. Mary McCarthy starb 1989 in New York.

Der 1930 geborene Gianni Berengo Gardin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Fotografen Italiens. Nach einer Karriere als Mode- und Werbefotograf wandte sich der in Mailand lebende Gardin Architektur- und Landschaftsaufnahmen zu. Seine Venedig-Impressionen sind in den sechziger Jahren entstanden. Er veröffentlichte mehr als 140 Bücher; einige seiner Arbeiten sind im Museum of Modern Art in New York zu sehen. Exklusiv für mare porträtierte er in Heft No. 12 die Hafenstadt Triest.

Die Textauszüge entstammen Mary McCarthys Buch Venedig, 1999 bei Droemer neu aufgelegt (192 Seiten, 24 Mark)
Person Von Mary McCarthy und Gianni Berengo Gardin