Fräulein Jessops Glück im Unglück

Die britische Schiffsstewardess Violet Jessop überlebte drei Schiffsuntergänge. Wie sie das schaffte? Einfach immer weitermachen 

Kurz bevor die „Britannic“ untergeht, fällt Violet Jessop noch rechtzeitig ihre Zahnbürste ein. Für die meisten Menschen, die nicht regelmäßig mit Schiffen verunglücken, eine seltsame Vorstellung, im Moment des Untergangs an Dentalhygiene zu denken. Aber nicht für Violet Jessop, die Havarien gewohnt ist und weiß, danach geht es weiter, auch mit der Körperpflege. Während also die „Britannic“ tiefer sinkt und alles in die Rettungsboote eilt, macht die Schiffsstewardess aus ihrer Sicht etwas sehr Vernünftiges: Sie macht kehrt, geht in ihre Kabine und holt ihre Zahnbürste. Es ist der 21. November 1916, windstille See, Violet Jessops dritter Schiffsuntergang. 

Wer Anfang des 20. Jahrhunderts Schiffbruch erleidet, braucht Glück. Auf den Meeren herrscht ein Wirrwarr konkurrierender Funksysteme mit unterschiedlichen Alarmsignalen. Manche Telegrafisten funken SOS, andere CQD, manche beides, und wiederum andere weigern sich, Notsignale der Konkurrenz anzunehmen oder weiterzuleiten. Die Retter selbst haben häufig nur Ruderboote oder Rettungsleinen. In den Weiten der hohen See, außerhalb von Hör- und Sichtweite, sind Schiffbrüche fatal. 

Violet Jessop hat bereits zwei Unglücke überstanden und bleibt jetzt beim dritten so ruhig, wie jemand nur ruhig bleiben kann, der nicht so leicht unterzukriegen ist. Sie lebt „tief unter der Oberfläche“ und „teilt Gefühle nur mit der Mutter“, wie sie in den 1930er-Jahren in ihren Memoiren schreibt. Als sie damit bei einem Autorenwettbewerb scheitert, lässt sie das Manuskript verschwinden, in der hintersten Ecke einer untersten Schublade. Hätten es ihre Nichten dort nach ihrem Tod nicht hervorgeholt und 1997 unter dem Titel „Titanic Survivor“ publiziert, wäre die Frau, die drei Schiffskatastrophen überlebte, unbekannt geblieben.

Die ersten 17 Lebensjahre verbringt sie in Argentinien als Tochter irischer Auswanderer. Sie kränkelt oft, liegt viel im Bett, stirbt fast an Tuberkulose. Weil Geld in der Familie gebraucht wird, bricht Jessop 1908 die Schule ab und möchte als Stewardess zur See fahren. Ihr ist bewusst, dass die Seefahrt für eine Frau eine ungewöhnliche Berufswahl ist, hofft aber, dass sie für ihre Abkehr von der Welt der Bücher durch „spannende Begegnungen und Kontakte an Bord“ entschädigt wird, vielleicht auch durch, ja, Liebe.

Die Personalchefs raten ihr ab, sie sei jung und hübsch, zu hübsch für den Job. Auf Fotos sieht man sie mit hellen Augen, das Kinn leicht erhoben, die Lider leicht geschlossen, Schlafzimmerblick. Sie werde die Männer an Bord verrückt machen, warnen die Personalchefs. Und das seien ruppige Gesellen. Doch Jessop lässt sich nicht beirren. Sie holt sich bei Ordensschwestern Tipps, wie sie ihre Schönheit kaschieren kann, und tritt in einer Art Gefängnisuniform an die Docks von Southampton, wo ihr erstes Schiff liegt.

Jessop macht Betten, säubert Kabinen, putzt Bäder und ist schnell desillusioniert. Das Arbeitsleben an Bord, schreibt sie, folge einem Herdeninstinkt. Es sei unsicher und könne jederzeit, beim kleinsten Anlass, mit dem Rauswurf enden. Sie fühlt sich sowohl von ihren Arbeitgebern als auch von den Passagieren ausgebeutet. 

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mare No. 149

mare No. 149Dezember 2021/ Januar 2022

Von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, ging einmal mit einem Hundeschlitten auf Grönlands Meereis verloren und errreichte nur mit Glück wieder das Festland (mare No. 73, „H8, bitte melden!“).

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur, ging einmal mit einem Hundeschlitten auf Grönlands Meereis verloren und errreichte nur mit Glück wieder das Festland (mare No. 73, „H8, bitte melden!“).
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