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Piraten und Kaperfahrer waren knallharte Bosse der organisierten Kriminalität. Ihre Flaggen machten sie zu Marken­zeichen, die Wieder­erkennungswert besaßen

Am Anfang war die Piratenflagge rot. Rot und nichts anderes. Man könnte sagen, abstrakt. Sie hat sich früh vom Gegenständlichen gelöst, die Form konsequent vereinfacht und radikal aufs Wesentliche reduziert. Rot = Gefahr. Allerdings war die rote Flagge – Piraterie eben – geklaut. Ein Plagiat. Sie stammte aus dem Seuchenwesen. Über Jahrhunderte wehte die rote Quarantäneflagge, die älteste international gültige Flagge, als Warnung auf Schiffen. Achtung, wir haben den Tod an Bord! Nun, da die Piraten sie im 16. Jahrhundert kaperten, musste eine Änderung her. Um Verwechslungen auszuschließen, bekam sie erst einen Schwalbenschwanz. Später wurde sie gelb.

Betrachten wir den Ozean einseitig und lassen wir Persischen Golf und Chinesisches Meer im Dunkeln. Chinas Piraten hatten die Köpfe ihrer Opfer um den Hals baumeln, sie brauchten keine furchterregenden Flaggen. Konzentrieren wir uns auf den Atlantik, auf die Gewässer vor Nord- und Südamerika, auf das Meer zwischen Westafrika und Karibik, überall, wo die rote Piratenflagge anzutreffen war. Zu sehen war sie allerdings meist erst, wenn sich die Piraten einem Schiff näherten. Kurz vor dem Entern bekannten sie Farbe: Der Tod naht. Widerstand zwecklos. Gut gebrüllt war meist schon halb gewonnen, und die eingeschüchterten Kaufleute hissten die weiße Flagge und ergaben sich.

Manchmal näherten sie sich ihren Opfern unter falscher Flagge, unter irgendeiner Landesfahne. Oder sie hängten Teppiche vor ihre Kanonen und stellten Hühnerkäfige an Deck, um zu signalisieren: Wir sind ein ehrbares Kaufmannsschiff, das redlich den Ozean durchsegelt. Unter Freibeutern allerdings war es verpönt, sich als etwas anderes auszugeben, als man ist. Korsaren und Staatspiraten segelten meist unter der Flagge ihres Landes. Was nicht hieß, dass man nicht protzte. Vergoldeter Bug, teure Schnitzereien, purpurgefärbte Segel – das sinnfreie Ornament, der kapriziöse und überladene Charakter, das Barocke … nicht auf den Flaggen der Piraten, aber in der Kunst ihres Schiffbaus finden wir es.

Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Piratenflagge schwarz. Berberpiraten an der nordafrikanischen Küste könnten dazu inspiriert haben; sicher ist das nicht, die Farbe des Islam ist Grün. Totenkulte könnten eine Rolle gespielt haben, möglicherweise. Das Grabtuch aus Turin hat sich erhalten, aber kaum eine Piratenflagge, der Himmel weiß, warum. Was wir wissen, wissen wir aus schriftlichen Überlieferungen. Von Kapitänen oder von Zeitzeugen, die Hinrichtungen beiwohnten, denn die Piraten schworen einen Eid: Unter dieser Flagge werden wir kämpfen und sterben.

„Jolly Roger“, so nannten ab dem 18. Jahrhundert alle Piraten ihre Flagge. Der Name könnte sich ableiten von „jolie rouge“, der Verballhornung der Quarantäneflagge, die „hübsche Rote“. Er könnte auf „old roger“ zurückgehen, der alten Bezeichnung des Teufels. Er könnte auf den Landstreicher anspielen – „jolly roger“ in England genannt. Die Wissenschaftler kennen viele mögliche Antworten.


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mare No. 113

No. 113Dezember 2015 / Januar 2016

Von Dimitri Ladischensky

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, ist mare-Redakteur für Politik und Leben.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, ist mare-Redakteur für Politik und Leben.
Person Von Dimitri Ladischensky
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