Fischmeldungen

Mit Peillinien, die auf uralten mythischen Erzählungen gründen, halfen sich die isländischen Küstenfischer einst bei der Suche nach ihren Fanggründen

Die heutige Küstenfischerei im Nordatlantik kann auf hochpräzise Satellitennavigationssysteme zurückgreifen; selbst für kleine Boote ist GPS seit Langem selbstverständlich. Für die Fischerei ist genaue Navigation dabei nicht nur wichtig, um Untiefen und Blindschären zu vermeiden. Auch das Auffinden des Fischs ist eine Frage der Navigation. Fischgründe sind vergleichsweise stabil. Wo sie nicht durch Überfischung massiv gestört sind, ist ihre Lokalisierung von relativ konstanten Faktoren wie Wassertemperatur, Nahrungsangebot und lokalen Strömungsverhältnissen abhängig. Bekannte Fischgründe kann man mit der Hilfe von GPS daher immer wieder ansteuern. Aber wie hat man deren Lage bestimmt, als man noch mit offenen Booten und ohne technische Hilfsmittel zum Fischfang ausfuhr, wie das noch um die vorletzte Jahrhundertwende der Fall war?
Ein Beispiel für eine einzigartig vielschichtige Methode der Küstennavigation ist Islands Fischerei bis um das Jahr 1900.

Ehe moderne Navigationstechnologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weithin verfügbar wurden, basierte die isländische Küstenfischerei auf Sichtlinien. Noch im frühen 20. Jahrhundert, bis an die Schwelle zum Ersten Weltkrieg, verwendeten ihre Fischer offene Ruderboote. Die Reichweite solcher Boote war auf einen relativ küstennahen Bereich beschränkt, in dem noch Landschaftsmerkmale der Küste für die Orientierung
zu Hilfe kamen.

Peillinien, die über Kombinationen von Landmarken hinweg verliefen, ermöglichten eine genaue und reproduzierbare Orientierung auf See. Navigation funktionierte nach dem Muster „Wenn die Landzunge X vor dem Berg Y steht, dann hat man den gesuchten Punkt erreicht“. Die entsprechenden Landmarken und die über sie verlaufenden Peillinien waren stabil und hatten feste Namen. Sie machten es möglich, bekannte Fischgründe verlässlich wiederzufinden, und ihre Kenntnis gehörte zum grundlegenden Handwerkszeug der Fischer.
Diese Visierlinien waren für das Auffinden von Fischgründen von derart zentraler Bedeutung, dass sich die Verbindung zwischen Fischgründen und Peillinien sogar in die isländische Sprache eingeschrieben hat. Denn im Isländischen werden Fischgründe und die Peillinien, mit denen man sie findet, mit demselben Wort bezeichnet: fiskimið.

Mit der Verbreitung moderner Technologien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Art der Orientierung auf See obsolet. Sosehr man in Island die neuen technischen Möglichkeiten mit Begeisterung aufnahm, so sehr wurde man sich zugleich schnell bewusst, dass alte, traditionelle Wissensbestände akut davon bedroht waren, für immer verloren zu gehen. Dies führte insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren zu lokalen Initiativen, die fiskimið zu sammeln und durch ihre Publikation in Zeitschriften und Gemeinderundbriefen in den Aktenbeständen historischer Archive zu bewahren.

Liest man die Akten heute, dann trifft man auf einen Reichtum von Überlieferungen, die helle Schlaglichter auf die Welt der isländischen Fischer des frühen 20. Jahrhunderts werfen.
Ein Beispiel aus der Region Strandir in Islands Westfjorden sind etwa die fiskimið namens Matarfellsbrún, „Kante des Bergs Matarfell“. Matarfellsbrún wird durch zwei Visierlinien definiert: Die eine davon verläuft vom Berg Matarfell über das Vorgebirge Kjörvogsmúli, die andere verläuft über die Felsen von Eyjahyrna und die Küstenklippe des Kaldbakshorn. Dort, wo diese beiden Visierlinien sich schneiden, befindet sich ein Meeresgraben, in dem die Bedingungen für Fischfang besonders günstig sind.

Versucht man die erste Visierlinie auf einer Landkarte nachzuvollziehen, stößt man schnell auf ein Hindernis: Die isländischen Landkarten kennen keinen Berg Matarfell. Aber es handelt sich nicht um einen Fehler. Vielmehr gehört der Name Matarfell einfach nicht zum Land, das die Landkarten darstellen, sondern nur zur See. Der Berg Matarfell ist identisch mit dem Berg Búrfell. Wenn man jedoch auf See war, dann durfte man den Namen „Búrfell“ nicht aussprechen und nannte den Berg stattdessen Matarfell. Denn im Namen „Búrfell“ klingt das isländische Wort búrhveli für „Pottwal“ an. Die isländischen Fischer der Zeit der offenen Boote fürchteten den Pottwal, dessen Bullen eine Länge von 20 Metern erreichen können.

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mare No. 145

mare No. 145April / Mai 2021

Von Matthias Egeler

Matthias Egeler, geboren 1980, promovierter Skandinavist und Religionswissenschaftler, lehrt am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er eine von der DFG geförderte Heisenberg-Stelle innehat. 2019 verbrachte er sechs Monate als Gastforscher am Volkskundezentrum (Þjóðfræðistofa) in Hólmavík, in der Re­gion Strandir in den isländischen Westfjorden.

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Vita Matthias Egeler, geboren 1980, promovierter Skandinavist und Religionswissenschaftler, lehrt am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er eine von der DFG geförderte Heisenberg-Stelle innehat. 2019 verbrachte er sechs Monate als Gastforscher am Volkskundezentrum (Þjóðfræðistofa) in Hólmavík, in der Re­gion Strandir in den isländischen Westfjorden.
Person Von Matthias Egeler
Vita Matthias Egeler, geboren 1980, promovierter Skandinavist und Religionswissenschaftler, lehrt am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität in München, wo er eine von der DFG geförderte Heisenberg-Stelle innehat. 2019 verbrachte er sechs Monate als Gastforscher am Volkskundezentrum (Þjóðfræðistofa) in Hólmavík, in der Re­gion Strandir in den isländischen Westfjorden.
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