Fisch muss schwimmen

José ist 76 und Lotse in Brasilien. Er könnte im Dienst bequem das Versetzboot benutzen. Doch er schwimmt lieber. Meilenweit

Er hatte zwei Träume. Den einen trugen ihm die Wellen zu, eines Nachts, als er wach dalag und die Wogen an die Mauer seines Hauses klatschten. Er öffnete die Luke über seinem Bett, legte sich wieder hin und schaute. Zuerst verschwamm der Himmel vor lauter Tränen. Dann tauchten Sterne auf, der Mond. Er träumte sich die Nacht hell wie den Tag und die See glatt wie einen Spiegel. Er sah Wolken darin schwimmen, klar und ruhig. Er träumte, dass ihm Kiemen und Fischschwanz wuchsen, träumte, wie die Wellen ihn mitnahmen, weit hinaus aufs Meer, bis sie schließlich über seinem Kopf zusammenschlugen und über ihn hinweggingen. Alles verstummte, nichts war mehr zu hören. Nicht die Worte der Mutter, nicht das Gelächter der anderen. Nur das Murmeln von Wasser. Er lauschte. Da hörte er seinen kranken Bruder rufen. Und damit war der Traum dann auch irgendwie immer zu Ende.

Diesen Traum behielt er ganz für sich, nur die Wellen wussten, dass er fortschwimmen will. Den anderen wollte niemand hören, die Mutter nicht, der Vater nicht. Dabei war es doch ein anständiger Traum. Ein guter Traum. Er sah ihn zuerst an der Wand der Stadtbehörde hängen: Ein Rauschebart, der Gott sein soll, wacht auf einem Segelschiff hinter dem Rücken des Steuermanns und greift ihm über die Schulter ins Ruder.

José Martins Ribeiro Nunes, geboren am 5. Januar 1927, fiel mit drei Jahren in den Fluss vor seiner Haustüre. Der Rio Sergipe trägt bei Hochwasser Baumstämme fort wie Zündhölzchen, ein mächtiger, ein starker Fluss. José ertrank nicht, obwohl es ihm damals schon verboten war, Fisch zu sein. Seine Mutter Vectúria Martins war Lehrerin für Mathematik, sein Vater Nicanor Ribeiro Nunes Justizbeamter und beiden das Meer nicht geheuer. Sie lebten mit ihren fünf Kindern in Aracaju, nördlich von Salvador, an der Mündung des Rio Sergipe in den Atlantik. Die Avenida Ivo do Prado liegt am Ufersaum. Bei Sturmflut schlug das Wasser an die Hauswände. War Regen im Anmarsch, störte Nachtwind Wellen auf. Stand Sonne bevor, schliefen sie ein. Morgens, noch bevor er die Augen aufschlug, horchte José, was das Meer vom Tag zu erzählen hatte.

Keiner verstand, wieso er schwamm. Fische schwimmen, sagten seine Eltern. In Brasilien stellen die Menschen Tische und Stühle ins Meer, plaudern stundenlang, die Füße im Wasser. Aber schwimmen? „Für einen Fisch hast du viel zu lange Wimpern“, sagten seine Eltern. José ließ die Wellen über seinen Kopf hinweggehen, wenn er nichts hören wollte. Die anderen Jungen nahmen das Kanu zur Praia de Atalaia, er schwamm. Wenn seine Eltern zürnten, weil er nicht aus dem Wasser wollte, bat er, dem Nachbarn helfen zu dürfen, der seinen Schlüssel im Fluss verloren hatte, oder dem Fischer das Netz zu holen, das draußen trieb. Wollte ihm aber auch gar nichts einfallen, dann blieb ihm nur, am Strand den Schiffen hinterherzuschauen. Ein Strich zum Horizont, von dem Wellen abzweigen. Wenn er allein gewesen wäre, ja, dann wäre er vielleicht aufs Meer geschwommen, weit hinaus. José, der Fisch. Und hätte selbst Spuren gezogen.

So aber musste er zurück. Zu seinen Eltern, die keinen Fisch in der Familie wollten. Die meinten, Vergnügen sei Sünde. Und Schwimmen zweifelhaft genug, sonst wäre Jesus nicht über das Wasser gegangen.


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Von Dimitri Ladischensky und Ed Kashi

Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, machte die Unterwasseraufnahmen, weil der Fotograf sich im Meer nicht wohl fühlte. Allerdings, hätte er von den Haien gewusst, wäre auch er nicht ins Wasser gestiegen.

Ed Kashi, geboren 1957, freier Fotograf in San Francisco, dokumentiert für „National Geographic“, „Geo“ und „Time“ politisches und soziales Zeitgeschehen. Der Schwimmlotse war eines seiner schwierigsten Objekte, weil José nicht zum Spaß ins Wasser steigen wollte. Auch für Fotografen nicht. Zum Glück kam dann der Lotsenauftrag zum Schwimmen.

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Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, machte die Unterwasseraufnahmen, weil der Fotograf sich im Meer nicht wohl fühlte. Allerdings, hätte er von den Haien gewusst, wäre auch er nicht ins Wasser gestiegen.

Ed Kashi, geboren 1957, freier Fotograf in San Francisco, dokumentiert für „National Geographic“, „Geo“ und „Time“ politisches und soziales Zeitgeschehen. Der Schwimmlotse war eines seiner schwierigsten Objekte, weil José nicht zum Spaß ins Wasser steigen wollte. Auch für Fotografen nicht. Zum Glück kam dann der Lotsenauftrag zum Schwimmen.
Person Von Dimitri Ladischensky und Ed Kashi
Vita Dimitri Ladischensky, Jahrgang 1972, mare-Redakteur für Reisen und Genuss, machte die Unterwasseraufnahmen, weil der Fotograf sich im Meer nicht wohl fühlte. Allerdings, hätte er von den Haien gewusst, wäre auch er nicht ins Wasser gestiegen.

Ed Kashi, geboren 1957, freier Fotograf in San Francisco, dokumentiert für „National Geographic“, „Geo“ und „Time“ politisches und soziales Zeitgeschehen. Der Schwimmlotse war eines seiner schwierigsten Objekte, weil José nicht zum Spaß ins Wasser steigen wollte. Auch für Fotografen nicht. Zum Glück kam dann der Lotsenauftrag zum Schwimmen.
Person Von Dimitri Ladischensky und Ed Kashi