Es könnte Scotts Hütte sein oder die von Amundsen. Eben noch war die Welt leer, der weiße Fluss, das weiße Ufer, die Hügel dahinter – weiß und unendlich. Plötzlich das Häuschen – ein Gran Leben in einer Landschaft wie Dickmilch. Ein Schlot sticht heraus. Rauch streicht übers Dach, das Parfüm der Geborgenheit. Schmale Balken, vom Eis verleimt. Kleine Fenster mit geborstenem Glas, Folien und Sperrholz als Flicken.
Drinnen sitzen sie am langen Tisch, zehn Männer und eine Frau. Dies ist das erste Essen vor dem Tag. Vom Frost versehrte Hände greifen nach Brot, vom Frost zerschlagene Münder kauen Ren. Kaum Teller, Papier stattdessen, aus Büchern gerissen. Das „Kapital“, Sowjetdruck noch, gibt die beste Unterlage – stabile Seiten, ein gutes Werk. Später bringt es den besten Zunder. Sie schweigen.
Keiner in der Brigade Nr. 1 redet viel. Seit Monaten ziehen die Fischer von der Hütte zu den Löchern auf dem Fluss, der hier schon ein kleines Meer ist: der Ob-Busen. Fast ein halbes Jahr lang geht das so – am Morgen hinaus aufs Eis, der diesjährigen Quote hinterher, am Abend heim.
Rund 100 Kilometer südlich steht die Fischfabrik von Nowi Port. Von dort bis zu ihrer Hütte gibt es nur die Schneehöhlen der Füchse und ein paar weitere Fischerkaten. Nowi Port ist der größte Ort auf Jamal, der riesigen Halbinsel weit hinterm Polarkreis, dem westlichen Ufer des Ob-Busens. Kaum ein längerer Fluss als der Ob, kaum ein reicherer auch. Vom Altai bis in die Karasee rauschen seine Wasser. Die Winter auf der sibirischen Halbinsel beginnen schon Mitte Oktober, nach einem kurzen Delirium von Frühling und Sommer, einem dreimonatigen Vollrausch der Natur. Der neunmonatige Kater danach, das sind Herbst und Winter auf Jamal.
Es ist einsam am Ob-Busen. Es ist einsam, doch in der Hütte stecken sie zu elft. Seit Ende November sind sie hier. Erst wenn der Frühling Schollen bricht, treibt es die Fischer zurück in die Siedlung.
Sieben Schritte misst ihr Raum. Mittendrin der Kanonenofen. Nichts hat sich hier verändert seit Wochen. Seit Jahren. Ein paar weitere Flickstellen, nun ja. Die Fotos der Politiker überm Herd allerdings sind neu. Irgendwer hatte sie ihnen irgendwann gebracht, kurz vor irgendeiner Wahl. Die Fischer kannten keinen der Volksvertreter, nur wegen der Farben hängen sie noch hier. Ein bisschen auch wegen der Hoffnung. „Geben wir ihnen eine Chance“, hatte Brigadier Kostja, der Älteste, gesagt und seine Kreuze auf dem Zettel gemacht. „Sollen sie was ändern.“ Ändert sich nichts, taugen sie allemal als Teller.
Sie nennen das Kabuff ihre Wohnstube. Das Gestell mit dem Kerosinkocher ist ihnen Küche. Dies ist das Bad: ein halbierter Kanister, in dem ein Eisblock taut. Ein Schlauch darunter, ein Bottich. Der lange Tisch ist ihr Salon. Den Nebenraum, wo das zerlegte Rentier liegt, erhöhten sie zum Kühlschrank. Sie lächeln selbst darüber. Sie nennen sich Familie. Das meinen sie ernst.
Kostja rüstet sich für den Gang aufs Klosett. Er schlüpft in die malitsa, den Poncho aus Rentierfell, er setzt die Fellmütze auf. Die anderen essen noch, die Köchin kratzt Asche aus dem Ofen. Kostja öffnet die Tür. Eis verkrustet den Flur, die Motorschlitten in der Ecke sind vom Reif glasiert. Kostja geht vorbei am Lager mit dem gefrorenen Fleisch. Immer wieder zieht es Pjotr und Wassja hinaus, über Nacht. Am Morgen werfen sie der Köchin einen weißen Hasen mit Blutkruste vor den Topf. Nenzen eben, denkt Kostja, Tundranomaden.
Alle in der Brigade Nr. 1 sind Nenzen, raue nordsibirische Asiaten. Nur sind die meisten längst „russifiziert“. Kein schlechter Klang in Kostjas Ohren. „Deine Großeltern aßen Schnee vor Hunger“, hatte der Vater gesagt, Kostja trug die Schultüte mit beiden Armen. „Jetzt sieh dich an.“ So stolz war der Vater. Kostja lernte zuerst das „Lied vom Fünfjahrplan“.
Vorbei an den Tanks mit dem Kerosin, daneben die Säcke mit der steifen Wechselwäsche. Zum nächsten Feiertag erst wird sie aufgetaut, dann ist die Sauna angefeuert. Ein paar schmale Blöcke neben den Säcken, aufrecht wie kristallene Stelen: das aus dem Fluss geschlagene Trinkwasser. Das Klosett am Ende des Ganges ist ohne Tür. Doch es hat ein Loch in der Wand, so sieht Kostja manchmal das Polarlicht. Die Zigarette im Mund, die Zeitung vor Augen, fast eine Stunde lang hockt Kostja so. Nie würde er sich die nehmen lassen.
Irgendwann hört er die anderen. Wenig später ist er bei ihnen, streicht das Eis von seinem Motorschlitten. Ein paar Raten, ganze Monatslöhne, muss er noch zahlen für das Gefährt. Doch ohne Kufen ist kein Weg übers Eis. Und die Fischfabrik in Nowi Port rückt keine Schlitten mehr heraus.
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Die Füße von mare-Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, steckten anfangs in sehr teuren Schuhen eines Hamburger Outdoor-Ausstatters – laut Werbung tauglich „bis minus 46 Grad Celsius“. Bereits am zweiten Tag auf dem Eis allerdings waren seine Zehen fast abgefroren. Die Rentierstiefel der Fischer retteten ihn. Leider konnte er sie nicht mit nach Hause nehmen: „Die Stiefel stanken, sobald sie ins Warme kamen.“
Auch der niederländische Fotograf Kadir van Lohuizen, geboren 1963, hatte seine Probleme mit der Kälte: Kameraverschlüsse setzten aus, Filme rissen, und schließlich barst ein Objektiv unter den Temperaturschwankungen zwischen Hütte (plus 30 Grad) und Polartag (minus 40 Grad).
Vita | Die Füße von mare-Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, steckten anfangs in sehr teuren Schuhen eines Hamburger Outdoor-Ausstatters – laut Werbung tauglich „bis minus 46 Grad Celsius“. Bereits am zweiten Tag auf dem Eis allerdings waren seine Zehen fast abgefroren. Die Rentierstiefel der Fischer retteten ihn. Leider konnte er sie nicht mit nach Hause nehmen: „Die Stiefel stanken, sobald sie ins Warme kamen.“
Auch der niederländische Fotograf Kadir van Lohuizen, geboren 1963, hatte seine Probleme mit der Kälte: Kameraverschlüsse setzten aus, Filme rissen, und schließlich barst ein Objektiv unter den Temperaturschwankungen zwischen Hütte (plus 30 Grad) und Polartag (minus 40 Grad). |
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Person | Von Maik Brandenburg und Kadir van Lohuizen |
Vita | Die Füße von mare-Autor Maik Brandenburg, Jahrgang 1962, steckten anfangs in sehr teuren Schuhen eines Hamburger Outdoor-Ausstatters – laut Werbung tauglich „bis minus 46 Grad Celsius“. Bereits am zweiten Tag auf dem Eis allerdings waren seine Zehen fast abgefroren. Die Rentierstiefel der Fischer retteten ihn. Leider konnte er sie nicht mit nach Hause nehmen: „Die Stiefel stanken, sobald sie ins Warme kamen.“
Auch der niederländische Fotograf Kadir van Lohuizen, geboren 1963, hatte seine Probleme mit der Kälte: Kameraverschlüsse setzten aus, Filme rissen, und schließlich barst ein Objektiv unter den Temperaturschwankungen zwischen Hütte (plus 30 Grad) und Polartag (minus 40 Grad). |
Person | Von Maik Brandenburg und Kadir van Lohuizen |