Fetzen oder Mantel?

Sprachforscher streiten sich um die Herkunft des Wortes „Segel“

Um die Geschichte des Wortes „Segel“ streiten sich die Germanisten. „Gehört wahrscheinlich im Sinne von ,abgeschnittenes Tuchstück‘ zu der unter Säge behandelten Wortgruppe“, heißt es im Herkunftswörterbuch des Dudenverlages, dem „Etymologie-Duden“. Er verweist auf die verwandten altisländischen Wörter segi „Fleischstreifen“ und sœgr „losgerissenes Stück“. „Wenig befriedigend“ findet dies der Berliner Sprachwissenschaftler Wolfgang Pfeifer in seinem „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“. Ein Segel sei kein abgerissener Fetzen, sondern ein sorgfältig zusammengenähtes Stück Stoff.

Tatsächlich machen die „abgeschnittenen Tücher“ wenig Sinn. Die ersten germanischen Segel, die dann auch ein eigenes Wort benötigten, waren sicher nicht so klein, dass dafür Stoff etwa aus großen Tüchern herausgeschnitten werden konnte. Selbst wenn das Segelzeug von Stoffbahnen abgetrennt wurde – das war auch für Kleidung der Fall, ohne dass sie deswegen einen ähnlichen Namen bekommen hätte. Die Eigenschaft des Segelstoffes, abgeschnitten zu sein, war wohl kaum bedeutungs- und wortstiftend.

Nachweisbar ist Segel als segal im Althochdeutschen seit dem 8. Jahrhundert; segl ist kurze Zeit später im Altisländischen belegt. Das Wort könnte kurz nach der Zeitwende entstanden sein, denn der römische Geschichtsschreiber Tacitus erwähnt im Jahr 98, dass bei den Suionen in Schweden das Segel unbekannt sei. Plinius der Ältere, der seine Militärzeit um das Jahr 50 herum in Germanien abgeleistet hat, berichtet, dass Segel dort erst seit kurzem verfertigt würden.

Beim römischen Einfluss setzt Sprachwissenschaftler Pfeifer für seine Alternative an: Vom lateinischen Wort sagum, „Mantel“, existiere die Verkleinerungsform sagulum, die wiederum ein umgangssprachliches segellum zulasse. Daraus wiederum könne „Segel“ entstanden sein. Vielleicht haben germanische Handwerker das Wort bei römischen Seefahrern aufgeschnappt. Zudem ist sagum, eigentlich die Bezeichnung für den Mantel der römischen Soldaten, selbst wiederum aus dem Germanischen übernommen. Im „Kleinen Pauly“, dem Lexikon der Antike, heißt es über sagum: „Das keltische Lehnwort bezeichnet ein Männergewand in Pelerinenform“, also rechteckig geschnitten, über den Kopf geworfen oder als Umhang getragen.

Aber warum nennt der Duden den Pfeiferschen „Mantel“ nicht wenigstens als Alternative zum eigenen „abgeschnittenen Stoff“? Aus der Duden-Sprachberatung ist die knappe Antwort zu hören, Pfeifers Wörterbuch sei kein Referenzwerk; so sehe man das in Germanistenkreisen. Nein, das habe nichts damit zu tun, dass „der Pfeifer“ ein Ostprodukt ist, erstmals 1989 in der DDR erschienen, doppelt so ausführlich wie der Duden und mit mehr Nachweisen aus den slawischen Sprachen. Aber für Wortgeschichte gelten im Dudenverlag nur zwei Werke: der eigene Band und Friedrich Kluges „Etymologisches Wörterbuch“.

Annett Auberle von der Duden-Redaktion – nicht von der Sprachberatung – erhebt hingegen sachliche Einwände. Gegen sagum spreche, dass sich eine Wortbedeutung „Segel“ im heimischen romanischen Sprachraum nicht fortentwickelt habe. Zudem sei der Übergang von der Betonung der ersten Silbe in sagum zur zweiten in segellum „etwas ungewöhnlich“. Außerdem werde ein Segel immer als ein Stück Stoff betrachtet; so bedeute das lateinische velum neben Segel auch Hülle oder Vorhang. Warum sollte plötzlich ein Kleidungsstück dem Segel den Namen geben?

Diese Frage findet Pfeifer berechtigt, sieht aber keine bessere Erklärung als seine. Das lateinische segellum in germanischem Munde, vor allem von den seeanwohnenden nördlichen Germanen ausgesprochen, könne durchaus auf der ersten Silbe gedehnt werden. Konziliant beteuern aber beide Seiten den Forschungsbedarf. Derweil hat der Duden einen Verbündeten verloren. Die jüngste Auflage des „Kluge“ nennt das „abgeschnittene Tuch“ des Duden „denkbar“, doch „kaum mehr als eine Vermutung“. Pfeifers „Mantel“, immerhin, sei „ebenfalls gut zu begründen“.

mare No. 20

No. 20Juni / Juli 2000

Von Dietmar Bartz

Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, ist freier Journalist und Buchautor. Er war von 1998 bis 2001 Chef vom Dienst bei mare.

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Vita Dietmar Bartz, Jahrgang 1957, ist freier Journalist und Buchautor. Er war von 1998 bis 2001 Chef vom Dienst bei mare.
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