Europas Fernheizung

Bleibt der Golfstrom aus, kommt die Eiszeit

53° 31' Nord, 56° 43' West - es ist Mitte April, die Tage werden langsam länger, und die Sonne steht zunehmend höher am Himmel. Doch auch unter ihrem gleißenden, sich in der Eis- und Schneelandschaft spiegelnden Licht aus einem stählernen Blau mag die Temperatur an diesem Tag nicht über minus zwölf Grad Celsius steigen. Es ist Mitte April, und noch liegt der Schnee meterhoch, das Packeis hat die Küste Labradors fest im Griff. Es wird noch drei Monate dauern, bis das Eis die Küste freigibt, bis die ersten Fischer für einen kurzen Sommer aus ihren Winterdomizilen zurückkehren nach Packs Harbour, Black Tickle, Grady Harbour und in die anderen kleinen, nun verlassenen Siedlungen entlang der Ostküste Labradors, um Dorsch, Lachs und Forellen nachzustellen. Noch sind der eisige Wind von Westen, der an den Läden der verbarrikadierten kleinen Holzhäuser zerrt, und ein junger Polarfuchs, der zwischen alten Schuppen und verschneiten Booten Unterschlupf vor der arktischen Kälte gefunden hat, das einzige Leben in Packs Harbour. Und in wenigen Stunden schon wird die Sonne wieder hinter dem Horizont versinken, und Wellen dichten Nebels ziehen auf und brechen sich an Labradors zerklüfteter Felsküste, umhüllen Dorf und Land und See zu einem feuchtkalten, lebensfeindlichen Eins aus Grau.

49° 27' Nord, 02° 36' West - es ist Mitte April, mit 16 Grad ein nicht ungewöhnlich milder Tag für diese Jahreszeit auf Guernsey im Ärmelkanal. Die Weiden der braunen Kühe stehen in saftigem Grün, Yucca-Palmen und andere subtropische Pflanzen schmücken die Vorgärten, an windgeschützten Stellen findet man sogar Apfelsinen- und Zitronenbäume. Und in großer Fülle bereiten Fuchsien, Karmelien, Mimosen, Hortensien und Akeleien, die überall wild in den Wäldern und an Straßenrändern wachsen, ihr üppiges Blütenmeer vor.

Das milde, trotz gleicher Entfernung vom Pol wie Labrador an der kanadischen Ostküste auch im Winter weitgehend frostfreie Klima verdanken die britischen Kanalinseln einer gigantischen ozeanischen Fernheizung - dem Golfstrom. Doch nicht nur die Kanalinseln, ganz Westeuropa profitiert von den wärmenden Wassern des Golfstromes, der die Klimazonen Europas um rund 1500 Kilometer nach Norden verschiebt. So liegt beispielsweise Madrid auf der gleichen geographischen Breite wie New York, Hamburg auf der von Nowosibirsk und Labrador. Mit maßvollen Temperaturen macht sich der Golfstrom noch an der norwegischen Küste bemerkbar, so daß die Temperaturen im Januar auf den Lofoten um 20 Grad höher liegen als an der Südspitze Grönlands, obgleich diese dem Äquator näher ist.

Durch den Transport warmen Wassers aus der Karibik quer über den Nordatlantik, das die arktischen Winde aufheizt, bevor sie Europa erreichen, stellt der Golfstrom unserem Klima eine Wärmeleistung von etwa einer Milliarde Megawatt zur Verfügung, rund einem Drittel der jährlichen Sonneneinstrahlung auf dem gesamten Nordatlantik. „Was der Atlantik da an Wärme nach Nordosten schafft, hat einen energetischen Wert von fünfzig Millionen Mark pro Sekunde", so der Hamburger Klimaforscher Dr. Ernst Maier-Reimer.

Schon 1513 beschrieb der Spanier Ponce de Leon zum ersten Mal den Golfstrom (genauer den Floridastrom, einen Teil des Golfstroms, siehe Karte auf Seite 66). „Der Strom war so stark, daß die Schiffe oft Mühe hatten, sich ihm entgegenzusetzen." Die erste wissenschaftliche Erklärung des Golfstromes versuchte 1515 Peter Martyr. Er argumentierte, die von den stetigen, westwärts setzenden Passatwinden getriebenen Wassermassen des Nordäquatorialstromes, der von der afrikanischen Küste parallel des Äquators nach Westen strömt, müßten sich an der amerikanischen Küste auftürmen; da dies aber nicht der Fall sei, stelle der Golfstrom als Reflexion und Abfluß dieser Wassermassen nur eine logische Konsequenz dar. Zwar war Martyrs Deutung des Golfstromes als Abfluß des Nordäquatorialstromes nach Norden korrekt, doch der eigentliche Antrieb des Golfstromsystems wurde erst viel später in einem weit entfernten Teil des Atlantiks entdeckt.

Um 1519 war den Spaniern der Golfstrom bereits so gut bekannt, daß ihre Schiffe auf dem Weg nach Amerika bewußt nach Süden und dann mit dem Nordäquatorialstrom nach Westen, auf dem Rückweg aber nach Norden entlang der amerikanischen Küste bis Cape Hatteras und dann östlich mit dem Golfstrom segelten. So hatten sie stets günstige Winde und vermieden Gegenströmungen auf der gesamten Route. Dennoch sollte die wissenschaftliche Erforschung des Golfstromes noch mehr als 300 Jahre auf sich warten lassen.

1770 reklamierte die Zollbehörde in Boston beim Schatzmeister in London, daß die Postschiffe von England nach Neuengland zwei Wochen länger benötigten als die Handelsschiffe auf gleicher Route. Zur gleichen Zeit sandte die amerikanische Walfangflotte Schiffe in alle Meere aus, und Namen solch kleiner Flecken wie Nantucket sollten durch den Wagemut und das Wissen der Walfänger um Strömungen und Winde bekannt werden in jedem Ort, der an ein Meer grenzte. Die umfangreichen Kenntnisse der Walfänger und Handelsfahrer war aber nicht in technischen Handbüchern festgehalten, sondern wurde von Mund zu Mund vererbt. Benjamin Franklin, seinerzeit Postmaster General, kam über die Beschwerde der Bostoner Zollbehörde mit einem Walfänger aus Nantucket ins Gespräch: „Wir sind gut vertraut mit dem Strom durch das Verfolgen der Wale, die sich an seinen Seiten, aber niemals in seiner Mitte halten. So halten auch wir uns an seiner Seite, kreuzen ihn manchmal, um auf die andere Seite zu gelangen, wobei wir von Zeit zu Zeit die Postschiffe treffen, wie sie in der Mitte des Stromes sich ihm entgegenstemmen. Wir haben sie informiert, daß sie gegen einen Strom segeln, der mit drei Meilen pro Stunde gegen sie läuft, doch waren sie zu weise, sich von einfachen amerikanischen Fischern raten zu lassen."

Vor allem durch die Arbeiten von Columbus Iselin an der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts um 1930 wurde erkannt, daß „der Golfstrom" einen Verbund zahlreicher Meeresströmungen darstellt (siehe Grafik auf Seite 66 oben), eingebunden in ein komplexes System ozeanischer Zirkulation: Beim Auftreffen auf die Inselketten der Antillen in der Karibik teilen sich die Wassermassen des Nordäquatorialstromes. Ein Teil strömt östlich der Antillen als Antillenstrom nach Norden, der andere Teil passiert die Inselketten und fließt als Yukatanstrom durch den Golf von Mexiko. Letzterer setzt sich als Floridastrom zwischen Florida und Kuba fort und vereint sich mit dem Antillenstrom zum eigentlichen Golfstrom, der an den amerikanischen Schelfrand angelegt nach Norden setzt. Am Cape Hatteras (North Carolina) biegt er, gleichsam einem Fluß im Meer, als nur 50 Kilometer breiter freier Jetstrom nach Nordosten und verläßt den amerikanischen Schelf. Hier erreicht der Golfstrom mit einem Transport von rund 100 Millionen Kubikmetern Wasser pro Sekunde und einer Geschwindigkeit von 6,5 Kilometern pro Stunde seine stärkste Ausprägung. Nach etwa 2500 Kilometern, zwischen 50 und 30 Grad West, spaltet sich der Golfstrom in drei Stromsysteme auf: Ein Viertel des Wassertransportes schwenkt südlich zurück in die Sargassosee, um erneut dem Golfstrom zugeführt zu werden; ein weiteres Viertel setzt entlang des 35. bis 40. Breitengrades als Azorenstrom nach Osten, um südöstlich der Azoren in den Kanarenstrom zu münden, der die Wassermassen letztlich zurück zum Nordäquatorialstrom führt. Etwa die Hälfte des Wassertransportes setzt sich in nordöstlicher Richtung als Nordatlantischer Strom fort, umspült die Küsten Nordwesteuropas mit warmem Wasser und strömt als Norwegenstrom entlang der norwegischen Küste weiter.


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mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Frank J. Jochem

Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.

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Vita Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.
Person Von Frank J. Jochem
Vita Frank J. Jochem ist Professor für Biologische Meereskunde an der Florida International University in Miami.
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