Es fehlt nur noch ein Mord

Der alltägliche Wahnsinn bei einer „Historischen Fahrt auf dem Göta-Kanal“

Erster Tag

Morgens am Norra Riddarholmskajen, Ausblick auf Kungsholmen und das Stadshus im Stil der „Nationalromantik“. Blauer Himmel, die Reflexionen des Riddarfjärden im Sonnenschein, Stockholm also wie in der Reklame.

Und doch kommt man sich schon wieder vor wie im tiefsten Deutschland: Seit kurz nach sechs, so versichert mir ein Gewährsmann, wird hier angestanden zwischen Koffern, gepackt wie zur Immigration, obwohl das Boarding frühestens ab acht Uhr zugelassen wird und die Abfahrt erst um neun ist.

Einer, Rheinländer auf den ersten Blick, sagt: „Eigentlich ist Stockholm ja urdeutsch!“

Die wohlwollenden Gesichter ringsum, als im Speisesaal der „Wilhelm Tham“ zwischen Mahagoni-Rahmen noch letzte unsichtbare Schlieren beseitigt werden und an Deck mit Schaufel und Besen hantiert wird: Stuttgarter Ordnung also auch hierzulande.

Es ist nicht direkt gesagt worden: „Hinten anstellen“, als sich ein Einheimischer zu dicht an Bullaugen und Reling traut. Jedenfalls nicht expressis verbis. Der mißbilligende Blick auf die Uhr jedesmal, wenn doch noch ein Taxi kommt und weitere Gäste bringt.

Ferner: ein Maschinist mit Zopf.

Später erfolgt der Einstieg per namentlichen Aufruf. Eigentlich wird eher geentert.

Bis dahin steht man wie zum Appell. Vier Tage „historische Fahrt auf dem Göta-Kanal“. Vier Tage …

Die Reisegesellschaft besteht vor allem aus Mitgliedern, die das Baujahr der „Wilhelm Tham“ im Jahre 1912 selbst erlebt haben müssen, zu Zeiten des Stapellaufes mindestens schon „unterwegs“ waren oder deren Erzeuger sich wenigstens schon gekannt haben.

Es gibt wenige Ausnahmen: ein Zwillingspaar, augenscheinlich nur als rechts und links wie beim Abführen einhakendes Betreuungskommando für die Großmutter mit an Bord. Zwei aus der Reisebranche, sie sind, wie sich später herausstellt, nur mit dabei, weil’s so gut wie kostenlos war. Eine Köchin und eine Kindergärtnerin aus Zürich, jung; sie haben sich „bei einem Sprechkurs kennengelernt“.

Wir stellen uns nicht vor, wissen’s aber irgendwann: David und Ellen aus San Diego, auf Europareise. Er, Fernmeldetechniker, wird immer wieder auf die illegalen Einwanderer aus Mexiko zu sprechen kommen, die gekommen sind, um das soziale Netz zu sprengen. Während er den schwedischen „Sozialismus“, der trotzdem ein Königshaus zulässt, „amazing“ findet. Herr und Frau L. aus Berlin, er pensionierter Kaufhausdirektor, sie Reiseverkehrsfrau und deshalb wichtig an Bord. Ein Pädagogenehepaar aus Zürich, eine Unternehmerin aus Flensburg. Eine Witwe aus Saarbrücken. Eine ängstliche Gunilla in Begleitung ihrer Mutter, so dass ich sofort an Ingmar Bergman und „Das Schweigen“ denke.

Und so weiter und so fort.

Die Schiffsglocke zum Ablegen. Und als gelte es, den Anspruch der Reederei, „eine historische Reise“ anzubieten, stante pede Lügen zu strafen, wird auf der Backbordseite sofort zum Handy gegriffen und die übrige Welt in Kenntnis gesetzt: „Hier ist es schön. Ist es bei euch auch schön? Das ist aber schön.“ Ein anderer: „Und vergiss nicht, nach dem Auspuff zu sehen.“ (Als kehre man erst nach Monaten zurück.)

Später springt die halbe Besatzung über Bord, der Kapitän voran. Doch ich habe mich getäuscht: Keine Havarie; an Land wird familiär gewunken, eine Rutsche, die über Granitfels ins Wasser führt, ist auch vorhanden, wir sind nur beigedreht, wie kurz zuvor schon bei Schloß Drottningholm: also Bestandteil des Programms.

In der Schleuse bei Södertälje wird der ersten schlecht.

Nachmittags in Trosa. Carl von Linné hat den Ort zum „Ende der Welt“ erkoren. Trotzdem ist ein Aufenthalt von vier Stunden angesetzt, und es bleiben nur zwei an Bord: die, die mit dem Magen kämpft, und die Frau des Pädagogen.

Im „Stadshotell“ ist angerichtet worden, denn die Bordküche von internationalem Ruf hat gleich am ersten Abend frei, und so sitzen sechsundvierzig Reisende im großen Festsaal wie bei einer Hochzeit, und es liegt nicht an der Sprache, dass ich nicht weiß, was reden mit meinen Tischnachbarn, der schüchternen Gunilla und ihrer Mutter, der pensionierten Schulbibliothekarin aus Toronto und Kjell-Åke, der die Reise schon fünf Mal gemacht hat und diesmal seinen 75ten begeht. Bei irgend jemandem piepst schon wieder ein Handy.

Abends. Rechter Hand zu sehen: Das malerisch gelegene Kernforschungszentrum Studsvik, und ich weiß endlich, was mit dem „historischen Dampfboot“ nicht stimmt: der Diesel (Scania Vabis). Ich habe Kopfschmerzen. Um zehn verabschiede ich mich, ein bisschen Schlaf wird alles verändern, und ich will ja früh raus am anderen Morgen, um dabei zu sein, wenn die „Wilhelm Tham“ gegen vier Uhr die erste Schleuse des Göta-Kanals erreicht.

Dass meine Kabine direkt neben dem lärmenden Vierhundertsechzig-Pferdestärken-Aggregat liegt, erscheint mir nicht direkt als überraschend. Dumm ist nur, dass mir morgens nicht auffiel, was das bedeutet.


Zweiter Tag

Um halb drei bin ich den Tränen nahe und erwäge den Ausstieg bei nächster Gelegenheit. Um viertel vor vier klingelt mein Wecker. Kein Diesellärm, und man könnte endlich schlafen. Doch jetzt gilt’s.

Dabei ist draußen an Deck nicht mehr zu besichtigen als eine dämmrige Landschaft im Nieselregen. Drei Häuser, in denen nichts schaukelt oder knarrt, drei Segelboote an Bojen. Einige legen sich wieder hin.

Sören, der Kapitän, ist die ganze Nacht am Steuer gewesen und nun müde und entnervt. Der Rheinländer kann kein Schwedisch und stellt trotzdem seine Fragen zur Technik. „Ach so, Sie verstehen wieder kein Deutsch“, sagt er. Dann dieses typische Englisch, das kein Mensch versteht.

Gestern beim Einsteigen gab’s ein Heft zur Reise. Einige blättern jetzt nach mit versteinerter Miene. Denn die Einfahrt in Mem wurde als einer der Höhepunkte angekündigt. Nach dem Frühstück finden sich nach und nach immer mehr Reisende auf dem Deck ein, um sich auf den Plastikstühlen in warme Decken einzumummeln, die Tasse in der Hand wie in einem Sanatorium, während alles schwankt. Die Kellner servieren Getränke.

Beim ersten Mal ist das Manöver durchaus reizvoll anzusehen: wie sich hinter dem Heck die Tore schließen und unter allgemeinem Gegluckse und Gegurgel der Wasserpegel steigt oder fällt, während Anna-Lena, die Matrosin, und Maschinist Janne das Schiff wie ein Tier an der Leine halten; der wachsame Blick des Steuermanns auf der Brücke dabei, die eine Hand am Ruder, die andere um einen Kaffeebecher.

Jede Ausfahrt aus der Schleuse wie eine Befreiung. Die Wiederholung dann unmittelbar oder erst nach ein paar Kilometern.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 4. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Lasse Dudde

Lasse Dudde, Jahrgang 1964, lebt in Lübeck und Stockholm. Er schreibt als freier Journalist Reportagen über Skandinavien und segelt in seiner Freizeit am liebsten in den ostschwedischen Schären.

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Vita Lasse Dudde, Jahrgang 1964, lebt in Lübeck und Stockholm. Er schreibt als freier Journalist Reportagen über Skandinavien und segelt in seiner Freizeit am liebsten in den ostschwedischen Schären.
Person Von Lasse Dudde
Vita Lasse Dudde, Jahrgang 1964, lebt in Lübeck und Stockholm. Er schreibt als freier Journalist Reportagen über Skandinavien und segelt in seiner Freizeit am liebsten in den ostschwedischen Schären.
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