Er hat den Überblick

Die Bilder des italienischen Kunstfotografen Massimo Vitali über­raschen mit scheinbar Alltäglichem: Er nimmt aus fünf Meter Höhe extrem hoch aufge­löste Bilder von Menschen an Stränden auf. Die Effekte sind für die Betrachter höchst bemerkenswert

Ein blasser Mann in roter Badehose, der bis zu den Schienbeinen im türkisfarbenen Wasser steht und seinen kleinen Sohn fotografiert. Zwei im Wasser spielende Kinder; ein Junge mit gelbem Eimer, der den beiden von Weitem zusieht. Männer mit nackten Schmerbäuchen, die an der Wasserlinie entlangstolzieren, ein weiterer Vater mit seinem Kind. Ein barfüßiges Pärchen im Gleichschritt, farblich aufeinander abgestimmt. Dahinter der helle, sich über eine Breite von mehr als 100 Metern erstreckende Sandstrand, Männer und Frauen auf Badetüchern oder unter farbigen Sonnenschirmen; der Blick auf zwei oder drei Hotels und die berühmten Pinienwälder, die den Strand von Marina di Pietrasanta an dieser Stelle säumen. In der Ferne die schwebende, im zarten pastellblauen Dunst kaum sichtbare Silhouette der Apuanischen Alpen, die sich an diesem traumhaften Tag im August in Licht und Luft aufzulösen scheinen.

„Das war mein erstes Foto“, sagt Massimo Vitali. Er sitzt in seinem Atelier in der Altstadt von Lucca vor dem Bildschirm seines Computers und betrachtet die mit wenigen Mausklicks aufgerufene Datei des Fotos. „Es war der 15. August 1994 und der Beginn einer guten Phase meines Lebens. Ich lebte damals noch nicht hier in Lucca, sondern in einem Haus in den Hügeln, von wo aus ich den Strand von Marina di Pietrasanta sehen konnte.“

Vitali erzählt von der Aluminiumkonstruktion, die er gemeinsam mit einem Freund gebaut hatte, einem mehrere Meter hohen Dreibein für die alte Deardorff, die er ein paar Jahre zuvor in dem legendären New Yorker Fotoladen Lens & Repro gekauft hatte. „Natürlich wollte ich die Konstruktion sofort ausprobieren.“ Er lehnt sich entspannt in seinen Schreibtischsessel zurück und erzählt von dem herrlichen Morgen, an dem er das Podest mit der schweren Großbildkamera an einem sorgfältig ausgewählten Platz im Wasser aufstellte und mit dem Rücken zum Meer das Eintreffen der ersten Badegäste abwartete.

Die Deardorff war die einzige seiner Kameras, die der Dieb zurückgelassen hatte, der Vitalis vor einem Restaurant in Mailand abgestellten Wagen ausgeraubt hatte. „Berlusconi hatte im März die Parlamentswahlen gewonnen“, sagt er, „und ich war erstaunt darüber, dass so viele Menschen ihm ihre Stimme gegeben hatten. Ich wollte mit meiner Kamera deshalb an einen Ort gehen, an dem ich die Leute beobachten konnte, die ihn gewählt hatten, und der Strand schien mir auch in dieser Hinsicht naheliegend.“

Von draußen hört man das Knattern eines Mopeds, das an diesem Vormittag im Dezember die enge Via delle Conce entlangfährt. Aus einem hinteren Eck des an der historischen Stadtmauer von Lucca gelegenen Gewerbehauses, in dem sich Vitali die Etage mit einem kleinen Architekturbüro und ein paar anderen Kreativen teilt, dringen leise Stimmen. Neben dem Schreib- tisch eine Gittertrennwand, hinter der sich ein Schrank mit seinen Negativen befindet. Gerade einmal knapp 5000 Fotos sind es, die der 1944 in Como geborene Vitali, der nach einem Studium der Fotografie am London College of Printing zunächst als Fotojournalist und Kameramann arbeitete, in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten aufgenommen hat. Am Türgitter unter einer Landkarte der Provinz Lucca hängen Straßenschilder der „Karl-Marx-Straße“ und der „Str. d. Freundschaft“ – Souvenirs aus Berlin, wo Vitalis Frau, die deutsche Theaterhistorikerin Annette Klein, früher lebte und wo der mit seiner Arbeit als Reportagefotograf zunehmend unglückliche Vitali bereits vor dem Mauerfall mit einem Dreibeinstativ zu experimentieren begann, um nach einer neuen, distanzierten Perspektive zu suchen. Nach dem „Blickpunkt des Fürsten“, von dem ihm seine Freundin erzählt hatte, dem bereits in der Renaissance beschriebenen privilegierten Platz im Theater, von dem aus man Dinge sieht, die einem sonst leicht entgehen.

Vitali war ein Bewunderer der frühen Arbeiten von Andreas Gursky und Thomas Struth, anders jedoch als diese lehnt er eine digitale Nachbearbeitung seiner Fotos bis heute ab. Die Idee für den Bau des Dreibeins, auf dem er im August 1994 die Menschen auf dem sich allmählich füllenden Strand von Marina di Pietrasanta beobachtete, war von den Panoramabildern des 1986 verstorbenen amerikanischen Fotografen Eugene O. Goldbeck angeregt, der aus der Vogelperspektive eines auf seinen Wagen montierten Stativs fotografierte.


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mare No. 129

August / September 2018

Von Thomas David, Massimo Vitali und Paul Barbera

Autor Thomas David, Jahrgang 1967, hat in Hamburg und London Anglistik und Kunstgeschichte studiert. Er schreibt seit 1994 über Kunst und Kultur, macht Features für Radiosender, hat eine Monografie über Philip Roth verfasst und einen Gesprächsband mit dem Theaterregisseur Luc Perceval veröffentlicht. Für mare schrieb David zuletzt in No. 117 über die Schriftstellerin Daphne du Maurier.

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Vita Autor Thomas David, Jahrgang 1967, hat in Hamburg und London Anglistik und Kunstgeschichte studiert. Er schreibt seit 1994 über Kunst und Kultur, macht Features für Radiosender, hat eine Monografie über Philip Roth verfasst und einen Gesprächsband mit dem Theaterregisseur Luc Perceval veröffentlicht. Für mare schrieb David zuletzt in No. 117 über die Schriftstellerin Daphne du Maurier.
Person Von Thomas David, Massimo Vitali und Paul Barbera
Vita Autor Thomas David, Jahrgang 1967, hat in Hamburg und London Anglistik und Kunstgeschichte studiert. Er schreibt seit 1994 über Kunst und Kultur, macht Features für Radiosender, hat eine Monografie über Philip Roth verfasst und einen Gesprächsband mit dem Theaterregisseur Luc Perceval veröffentlicht. Für mare schrieb David zuletzt in No. 117 über die Schriftstellerin Daphne du Maurier.
Person Von Thomas David, Massimo Vitali und Paul Barbera