Endstation Erde

Am entlegensten Punkt des Globus, dem Point Nemo im Südpazifik, finden die Überreste der Raumfahrt ihre letzte Ruhe

Berichten zufolge schlenderte die Frau mit dem Namen Lottie Williams am 22. Januar 1997 durch einen Park in Tulsa im US-Bundesstaat Oklahoma, als sie ein konserven­dosengroßes Stück Metall an der Schulter traf. Es war einfach so vom Himmel gefallen. Allem Anschein nach handelte es sich um einen Teil des Tanks einer Delta-II-Rakete, die im Jahr zuvor einen Satelliten ins All transportiert hatte. 

Lottie Williams blieb unverletzt. Doch sie hat seither die zweifelhafte Ehre, dass sie der bisher einzige Mensch ist, der je von Weltraumschrott getroffen wurde.

Das ist verblüffend, wenn man bedenkt, dass im Schnitt ein Trumm am Tag vom All auf die Erde fällt. Es sind die Reste der bisher rund 6000 Raketen, die der Mensch ins All geschossen hat, seit die Weltraumära mit der ersten Sputnik-Rakete im Oktober 1957 begann. Die Raketen selbst und auch viele der Satelliten, die sie ins All trugen, sind längst nicht mehr funktionstüchtig und teilweise schon zerfallen. Rund 30 000 Objekte und größere Bruchstücke kreisen heute um die Erde, dazu Millionen von Metallbrocken und -krümeln. Zusammen wiegt der Schrott fast 10 000 Tonnen.

Die Trümmer sinken ab, bis sie in die Erdatmosphäre eintreten. Je nach Größe und Material verglüht dabei viel, aber längst nicht alles. Am 21. Januar 2001 landete ein 70 Kilogramm schweres Teil des Motorgehäuses einer Delta-II-Trägerrakete in Saudi-Arabien, 240 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Riad. Im Mai 2020 ­fielen Stücke einer chinesischen Long-­March-5B-Rakete – kurz: LM-5 – auf das Dach eines Hauses in der Elfenbeinküste. 

Dass wir solche Geschichten aber relativ selten hören, hat verschiedene Gründe. Ein besonders wichtiger trägt den Namen Point Nemo.

Point Nemo ist einerseits ein klar definierter Ort. Er hat die Koordinaten 48° 52' 31,75" S 123° 23' 33,07" W, liegt im Südpazifik und ist der wohl einsamste Punkt der Welt. Egal, in welche Richtung man von Point Nemo aus aufbricht: Man müsste gut 2600 Kilometer segeln, um Land zu erreichen. Gen Norden wäre es das nur zwei Kilometer breite, unbewohnte Atoll Ducie. Gen Süden ein unbesiedeltes Eiland vor Antarktika. Im Nordosten geriete man schließlich zur Vulkaninsel Motu Nui und dahinter zu Chiles Osterinsel. 

Die drei Punkte, mit Point Nemo im Zentrum, bilden einen Kreis, der gut 22 Millionen Quadratkilometer Meer umfasst – eine Fläche fast so groß wie China, die USA und die Europäische Union zusammen. Dieses gigantische Wasserreich untersteht keiner Nation. Niemand hat hier Rechtshoheit. Selbst Schiffe kommen selten vorbei. 

Wer von Point Nemo spricht, meint allerdings oft den Raumschifffriedhof, der sich um diesen Punkt auf der Karte gebildet hat und der eine merkwürdige Folge des Weltraumzeitalters ist. In den frühen 1970er-Jahren – noch mitten im Kalten Krieg – begannen erst die Russen, dann die Amerikaner, sehr viel später auch die Europäer und Japaner, ausgediente Raketen und Satelliten im Südpazifik zu versenken. Mittlerweile ruhen hier gut 260 Raumfahrzeuge auf dem Meeresgrund.

Technisch ist der Weltraumfriedhof kein abgegrenzter Ort, sondern die Zone zwischen Chile und Neuseeland, in der Point Nemo liegt. „Wir nennen sie SPOUA oder South Pacific Ocean Unpopulated Area“, sagt Holger Krag, Leiter der Abteilung für Weltraumsicherheit bei der Europäischen Weltraumagentur (Esa). Krag zählt zu den wenigen Menschen, die schon vor Ort miterlebt haben, wie ein Raumfahrzeug im Weltraumfriedhof versenkt wurde. 

„Sechs Tage vorher geben wir dem Schiffsverkehr Bescheid, zwei Tage vorher dem Flugverkehr“, sagt Krag. „45 Minuten vorher, wenn sich das Raumfahrzeug noch auf der anderen Seite der Erde befindet, leiten wir ein Bremsmanöver ein.“ Mit rund 28 000 Stundenkilometern sinkt das Raumfahrzeug in die Atmosphäre, deren Teilchen am Gefährt reiben, reißen und es erhitzen. Manche Bauteile brechen ab, andere verglühen. 

Krag befand sich auf einem Schiff in der SPOUA, als die Esa dort 2008 einen Satelliten untergehen ließ. Vor allem die inneren Bauteile wie Düsen und Tanks aus hitzebeständigem Metall wie Titan überlebten den Eintritt, so Krag. Die größten erreichen die Dimension eines Öltanks. „Sie fallen senkrecht nach unten.“ Schon recht abgekühlt und nur noch so schnell wie ein Auto auf der Schnellstraße platschen sie ins Wasser. „Besonders große Wellen macht das nicht“, sagt Krag.

Die Trümmer verteilen sich über mehrere hundert Kilometer. Im Raumschifffriedhof stammen die meisten von sow­jetischen und russischen Missionen, darunter die Überreste der Raumstation „Mir“. Mit einem Gewicht von rund 130 Tonnen war sie das bisher größte Objekt, das im Weltraumfriedhof versenkt wurde – etwa 20 Tonnen dürften den Wiedereintritt überlebt haben. 

Dazu kommen die US-Station „Skylab“ sowie japanische und europäische Raumtransporter.

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 154. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Ute Eberle

Ute Eberle, Jahrgang 1971, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Baltimore, USA. Sie war bisher bei zwei Raketenstarts dabei, aber glücklicherweise noch nie bei einem Absturz.

Mehr Informationen
Vita Ute Eberle, Jahrgang 1971, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Baltimore, USA. Sie war bisher bei zwei Raketenstarts dabei, aber glücklicherweise noch nie bei einem Absturz.
Person Von Ute Eberle
Vita Ute Eberle, Jahrgang 1971, arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Baltimore, USA. Sie war bisher bei zwei Raketenstarts dabei, aber glücklicherweise noch nie bei einem Absturz.
Person Von Ute Eberle