Elektrizitäts-Werke

Ein spannender Einfall: Der Meeresbiologie Tom Goreau setzt künstliche Riffe unter Strom. Das lässt die Korallen schneller wachsen

Es gibt einen Moment, den Tom Goreau immer wieder genießt: Er leiht seine Taucherbrille einem Fischer, der glaubt, das Meer zu kennen; schließlich ist er an der Küste aufgewachsen und hat sein Leben lang Netze ins Wasser geworfen. Nun aber wirft er sich selbst hinein und sieht die Unterwasserwelt durch Goreaus Brille. Bunte Korallenriffe, umschwärmt von Fischen, kristallklar. Goreau hat noch niemanden erlebt, der davon unberührt blieb. Dann zieht er seinen zweiten Trumpf: Fotos, die sein Vater und sein Großvater in den 1940er- und 1950er-Jahren aufgenommen haben: Korallenbänke von einer Vielfalt und Lebendigkeit, wie es sie kaum mehr gibt. „Die könnt ihr auch haben“, sagt er den staunenden Fischern. „Wenn ihr mir helft.“

Tom Goreau ist ein 69-jähriger Meeresbiologe, der wie ein in die Jahre gekommener Surfer wirkt – sonnengebräunt, unternehmungslustiger Blick, umrahmt von üppigem Haupthaar und rauschendem Bart. Er bewohnt eine kleine, doppelstöckige Wohnung bei Boston, doch dort trifft man ihn nur selten an. Meistens reist er um die Welt, um Menschen für sein Lebensprojekt zu gewinnen: den Bau künstlicher Korallenriffe, die unter Strom stehen. Wie in Hawaii, wohin er nächste Woche fliegt. Wie in Grenada, woher er gerade kommt.

Zwei Wochen hat er auf der Karibikinsel und ihrer kleineren Nachbarin Carriacou Workshops veranstaltet. Hier wie dort nahmen rund 30 Menschen teil, darunter viele Fischer und Studenten, die aus Fischerfamilien stammen. Zusammen bogen, sägten und verschweißten sie sechs Meter lange Armierungseisen, wie sie im Betonbau üblich sind. Sie schufen 16 Gebilde in Form von Tunneln und Kuppeln, riesigen Seesternen und Schildkröten, stellten sie auf Schwimmkörper, zogen sie aufs Meer und versenkten sie. Dann begann die Verkabelung.

Dies ist der verblüffendste Teil von Goreaus Projekten: die Elektrifizierung der Stahlgerüste. Von einem Solarpaneel an Land, einer Windturbine oder vom lokalen Stromnetz legen Taucher Leitungen und verknüpfen sie mit dem Gerüst. Schwacher Gleichstrom zwischen sechs und zwölf Volt fließt hindurch – ungefährlich für Lebewesen, ein Mensch spürt die Spannung nicht. Aber sie genügt, um durch Elektrolyse Mineralien wie Aragonit aus dem Meerwasser zu fällen und als Kristalle an den Stangen anzureichern. Binnen Tagen, erzählt Goreau, manchmal schon nach Stunden, verwandelt sich die rostrote Farbe des Stahls in Grau, um anschließend unter einer weißen, kalkigen Schicht zu verschwinden. Die besteht aus demselben Material wie Korallenskelette.

Normalerweise wartet Goreau ein paar Tage, bis er die Gerüste bepflanzt. In Grenada musste es schneller gehen. Der Anker eines unbekannten Schiffs hatte ein nahe gelegenes Riff demoliert, etliche Korallen waren abgebrochen. Vom Meeresboden klaubten die Workshopteilnehmer noch lebende Tisch- und Geweih-, Stein- und Röhrenkorallen und befestigten sie mit Drähten und Kabelbindern an den neuen Konstruktionen. „Hier wachsen sie viermal schneller als auf natürlichen Riffen“, sagt Goreau. „Biorock“, wie Goreau die Technologie nennt, nehme den Korallen einen Großteil ihrer Arbeit ab. Weil die Elektrolyse die Fundamente erzeugt, können sich die Nesseltiere aufs Wachstum nach oben konzentrieren.

Zu Korallen fühlt sich seine Familie seit Generationen hingezogen. Der Großvater, ein Tauchpionier, entwickelte Unterwasserkameras mit Makrolinsen, um die Riffschönheiten abzulichten. Der Vater, ein Meeresforscher, erkundete mit Tom Korallenriffe auf Jamaika, wo sie lebten. Dann aber wandte sich Tom Goreau dem Himmel zu. Nach einem Biochemieabschluss in Harvard beschäftigte er sich mit planetarer Astronomie am Massachusetts Institute of Technology. Bis 1987 ein exzentrischer deutscher Architekt in sein Leben trat.


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mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Carsten Jasner

Läge Berlin am Pazifischen Ozean, würde Autor Carsten Jasner, freier Journalist, keinen Schrebergarten, sondern einen viel pflegeleichteren Korallengarten anlegen

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