Eleganz unter Wasser

Seeschlangen sind friedlicher als ihr Ruf – nur drei von 60 Arten gelten als aggressiv. Aber Giftzähne haben sie alle – und sie sind schnell

Seeschlangen gehen das Leben gerne gelassen an. Langsam und elegant schlängeln sie durchs Wasser, stöbern in kleinen Löchern nach Beute oder warten auf schmackhafte Happen, die vorbeigeschwommen kommen.

In den Morgenstunden dümpeln sie an der Wasseroberfläche oder aalen sich auf einem trockengefallenen Riff in der Sonne. Berührungsängste kennen die marinen Reptilien nicht. „Wenn eine Seeschlange auf einen Taucher trifft, kann es passieren, dass sie an ihn heranschwimmt und sich um seine Arme und Beine wickelt“, erzählt der dänische Zoologe Arne Redsted Rasmussen. „Manchmal züngelt sie noch an ihm herum, als wollte sie fragen: Was bist du denn für eine Kreatur?“

Rasmussen gehört zu den wenigen Wissenschaftlern weltweit, die sich intensiv mit Seeschlangen beschäftigen. Er warnt jedoch davor, ihre Friedfertigkeit auf die Probe zu stellen. Fühlen sich die Reptilien belästigt, etwa bei der Paarung, ist es mit ihrer Gelassenheit vorbei. Dann schießen sie mit hoher Geschwindigkeit heran, Flucht zwecklos: „Einer Seeschlange kann man nicht entkommen“, erzählt der 41-jährige Däne. Wer in einem solchen Moment Nervenstärke zeigt und sich ruhig verhält, hat zweifelsfrei die besten Karten. „Will die Seeschlange zubeißen, sollte man versuchen, ihr die Flosse hinzuhalten, und hoffen, dass sie dort hineinbeißt.“

Für einen Taucher kann der tierische Stimmungsumschwung tödlich enden. Seeschlangen gehören zur Familie der Giftnattern (Elapidae) und sind eng mit den Kobras und Mambas verwandt. Mit ihrem Biss, der weder spürbar noch schmerzhaft sein muss, injizieren sie ein Nervengift. Folge: Atemlähmung und Tod durch Ersticken, es sei denn, das Antiserum ist innerhalb von zwei bis vier Stunden zur Stelle. Unfälle mit tödlichem Ausgang gibt es immer wieder, meistens sind Fischer die Opfer. Rasmussen selbst wurde auch schon einmal gebissen, als er einer in einem Fischernetz verhedderten Seeschlange zu nahe kam. Er hatte Glück: „Die Giftdrüse war wahrscheinlich schon leer“, vermutet der Däne.

Die Mehrheit der rund 60 Seeschlangen-Arten ist nur selten aggressiv. Drei Arten gelten als angriffslustig, beispielsweise die Schnabelköpfige Seeschlange (Enhydrina schistosoma), vor der man sich unbedingt hüten sollte: Ihr Gift ist stärker als das einer Kobra.

Seeschlangen leben in warmen tropischen Gewässern, insbesondere in den Küstengewässern zwischen Nordaustralien und Südasien. Im Atlantischen Ozean sucht man die geschmeidigen Schwimmer vergebens. Zwei Seeschlangen-Arten sind im Süßwasser beheimatet, darunter eine kleinwüchsige Vertreterin (Laticauda crockeri); sie lebt im Te-Nggano-See auf Rennell Island, das zu den Salomonen gehört. Die gelb-schwarze Plättchen- oder Gelbbauch-Seeschlange (Pelamis platurus) kommt als einzige Seeschlange regelmäßig auf hoher See vor. Sie hält sich gerne in „slicks“ auf – Streifen ruhigen Wassers, in denen Meeresströmungen aufeinandertreffen – und versteckt sich im Treibgut.

Seeschlangen ernähren sich von Fisch, Tintenfisch, Garnelen und Krebsen; manche fressen auch Laich. Ihre Beute spüren sie anhand der chemischen Duftspur auf. Nach einem schnellen Biss warten sie, bis die Mahlzeit zu zappeln aufhört, und schieben sie mit Hilfe ihrer kräftigen Kiefermuskeln schlundwärts. Einen kräftigen Aal verschlingen sie in sieben Sekunden.

Seeschlangen haben kaum Feinde. Die Gelbbauch-Seeschlange scheint im Wortsinne sogar ein wahrer Kotzbrocken zu sein. Raubfische, die sich zum ersten Mal an so einem Reptil verbeißen, würgen es wieder aus. Und Seevögel, die sich einen der gelb-schwarzen Schuppenkörper aus dem Wasser greifen, lassen ihn sofort wieder fallen. Abschreckend sind nicht nur die Farben, sondern auch die ungenießbaren Substanzen in der Haut.

Die Tiere sind Einzelgänger, manchmal aber schließen sie sich zu großen Schwärmen zusammen. In der Straße von Malakka, zwischen Malaysia und Sumatra, wurde sogar einmal ein hundert Kilometer langer und drei Meter breiter Seeschlangen-Schwarm gesichtet. Auch in der Bucht von Panama versammeln sich Seeschlangen hin und wieder, aber in kleineren Formationen. Eine Erklärung für dieses ungewöhnliche Verhalten gibt es noch nicht. Wie die Seeschlangenarten untereinander verwandt sind, ist ebenfalls noch nicht erforscht.

Bislang werden die Tiere in drei Gruppen eingeteilt. Die geringelten Plattschwanz-Seeschlangen (Laticauda-Gruppe) leben nicht nur im Wasser, sondern auch an Land. Sie können bis zu einer halben Stunde unter Wasser bleiben, dann müssen sie zum Luftholen an die Oberfläche. Seeschlangen sind zwar Lungenatmer wie Landschlangen auch, aber mit besonderen Anpassungen an das marine Leben. Ihre Lunge ist sehr lang und zieht sich durch den Körper bis zum Schwanz. Die Blutgefäße liegen dicht unter der Haut, wodurch die Tiere zusätzlichen Sauerstoff aufnehmen. Etwa 25 bis 30 Prozent gewinnen sie durch Hautatmung. Die „echten Seeschlangen“ (Aipysurus-Gruppe und Hydrophis-Gruppe) verbringen ihr gesamtes Leben im Wasser und sterben, wenn sie angespült werden. Ihren Nachwuchs bringen sie lebend zur Welt, das heißt, die Jungen schlüpfen noch im Mutterleib aus ihren Eiern. Die amphibisch lebenden Plattschwänze dagegen legen ihre Eier in Höhlenöffnungen oder Felsspalten an Land ab.

Um Seeschlangen rankten sich in der Vergangenheit viele Mythen. Von einem ungewöhnlichen Vorfall 1852 im tropischen Südpazifik berichtete Charles Seabury, Kapitän des US-amerikanischen Walfängers „Monongahela“, in mehreren Briefen. Demnach entdeckte sein Ausguck im Mastkorb ein über dreißig Meter langes Tier, das mit wellenförmigen Bewegungen durchs Wasser schwamm. Nach Ansicht von Seabury war es eine Seeschlange, und er befahl seinen Männern, sie zu fangen.

Von mehreren Harpunen getroffen, schleppte sich das Tier weiter durchs Meer und zog die Jäger mit ihrem zu Wasser gelassenen Boot sechzehn Stunden lang hinter sich her. Erst dann konnten sie das monströse Tier töten und zerlegen. Teile davon nahmen sie mit an Bord. Allerdings konnte nie ein Wissenschaftler die geheimnisvolle Fracht prüfen, weil das Schiff wenig später unter mysteriösen Umständen verschwand; die Briefe hatte Seabury zuvor an ein anderes Schiff übergeben. Von den sagenumwobenen Riesen-Seeschlangen gibt es heute keine Spur mehr. Die meisten Seeschlangen messen nicht mal zwei Meter; als längste gilt die Gelbe Seeschlange mit 2,75 Metern.

mare No. 22

No. 22Oktober / November 2000

Von Ute Schmidt und Jürgen Freund

Die Biologin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 21 schrieb sie über Seepferdchen

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, lebt als Fotoreporter auf den Philippinen und kam den Seeschlangen zuweilen gefährlich nahe. In mare No. 14 erschienen seine Walhai-Fotos, für die er einen World Press Photo Award erhielt

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Vita Die Biologin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 21 schrieb sie über Seepferdchen

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, lebt als Fotoreporter auf den Philippinen und kam den Seeschlangen zuweilen gefährlich nahe. In mare No. 14 erschienen seine Walhai-Fotos, für die er einen World Press Photo Award erhielt
Person Von Ute Schmidt und Jürgen Freund
Vita Die Biologin Ute Schmidt, Jahrgang 1966, arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 21 schrieb sie über Seepferdchen

Jürgen Freund, Jahrgang 1959, lebt als Fotoreporter auf den Philippinen und kam den Seeschlangen zuweilen gefährlich nahe. In mare No. 14 erschienen seine Walhai-Fotos, für die er einen World Press Photo Award erhielt
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