El Mal di Mare

Was ist Seekrankheit? Eine Jahrtausende alte Frage

Das Meer ist unsicherer Boden. Ewig schwankende Grenze zwischen Ebbe und Flut, Stillstand und Sturm. Zwielichtzone verschwimmender Fronten zwischen Leben und Tod.

Auf dem Meer zu fahren war immer bange Balance. Vom Scheitern bedroht, vom Untergang in grundlose Tiefen. Schwindel ist eine ebenso verbreitete wie vernünftige Reaktion des Landbewohners auf den zappelnden Tanz des kleinen Schiffes über den großen Abgründen der See.

Manche befällt der innere Taumel schon, wenn sie das Schiff am Kai liegen sehen, noch sanft umplätschert und bewegt nur von kurzen, schwatzenden Wellen des Hafens. An Bord, wenn das Schiff beginnt, das Meer zu befahren, verfallen die Taumelnden in dumpfen, angstgrundierten, übelkeitsgesättigten Dämmerzustand mit kaltem Schweiß auf blasser Haut: El Mal di Mare.

Seekrankheit tritt im allgemeinen auf, „wenn bei dem allmählich stärker werdenden Wellenschlage und der dadurch bedingten heftigen, schaukelnden Bewegung des Schiffes dem einzelnen die Überzeugung sich aufzudrängen beginnt, dass der Boden, auf welchem er bisher gestanden, ihm einen sicherern Schwerpunkt bot, als der, welchen er jetzt inne hat“. So gelassen formulierte es 1858 O. H. With in seiner „Gesundheitspflege auf Seeschiffen für Gebildete aller Stände namentlich für Schiffsofficiere und Auswanderer“. Doch so gelassen erlebt der Seekranke seine Krankheit selten.

Der Mund wird trocken. Der Körper kalt. Der Kopf leer. Nur noch Angst, Apathie, Depression haben darin Platz. Das Herz rast. Der Magen zuckt konvulsiv. Die Welt kommt abhanden.

Manche möchten es ihr gleichtun. Der Tod erscheint dem Kranken als bessere Alternative. Cicero, auf der Flucht vor den Häschern des Marcus Antonius, ließ sein Schiff wenden, kehrte an Land zurück und ging lieber in den sicheren Tod als weiter die „iactationes navis“ zu ertragen.

Seit der Antike ist Seekrankheit immer wieder beschrieben und behandelt worden – und ein Rätsel geblieben. Rezepte gegen sie gibt es wie Sand am Meer. Die alten Römer versprachen sich etwas von Flohkraut und Wermut, zerrieben in Öl und Essig und dann auf die Nasenlöcher aufgetragen.

Linsen mit Minze und verdünnten Wein empfahl der byzantinische Arzt Paulos von Aegina.

Zu Abführkuren vor Reiseantritt und sauren Säften, die das Körperinnere zusammenziehen, rieten islamische Mediziner des Altertums.

Die englischen Könige des Mittelalters trafen zur Seekrankheitsprophylaxe eine spezielle Vorkehrung: Bei Überfahrten nach Frankreich war ein Mitglied des Hofstaates dafür zuständig, das Haupt seiner Majestät ständig aufrecht zu halten und mit den Schlingerbewegungen des Schiffes zu synchronisieren.

„Unreinen Säften, Furcht und anderen heftigen Leidenschaften“ gab der „Arzt der Reisenden“ in seinem Buch aus dem Jahre 1774 die Schuld an der Seekrankheit und empfahl dagegen „Citronensaft und gute Gewürze“.

Schlechter dran war, wer der Empfehlung folgte, zur Vorbereitung auf seine Schiffsreise Seewasser zu trinken. Ihm war schon speiübel, bevor er auch nur den Hafen erreicht hatte.

Schröpfköpfe, Petersiliensträuße auf nackter Brust, Safran-Päckchen auf dem Bauch, konditionierende Kahnfahrten, schwerer Wein mit Gelbei – kaum ein Mittel, das nicht zum Einsatz kam. Im 19. Jahrhundert auch Chloroform und Opium, was wenigstens den Vorzug hatte, daß der Reisende von seiner Reise nicht mehr viel mitbekam.

Doch am Ende aller Erfahrungen mit Haus- und Wundermitteln blieb es bei der nüchternen Feststellung des Dr. With aus Bremerhaven: „Die Seekrankheit ist der raue Anfang eines rauhen Berufes“.

Im wissbegierigen und wissenschaftssüchtigen 19. Jahrhundert aber begnügte man sich nicht mehr mit so geringer Aufklärung. Und wie meistens wurde die Forschung von kommerziellen und militärischen Interessen inspiriert. Generäle wollten nicht hinnehmen, dass sich ihre Soldaten von Truppentransporten über See erst tagelang erholen mussten. Und die großen Reedereien, die inzwischen mit ihren Luxus-Linern regelrecht Regatten zwischen Alter und Neuer Welt austrugen, wünschten sich Passagiere, die nicht krank in der Koje lagen, sondern beseligt an der Bar saßen.

Der Sieg über die Seekrankheit setzte die Kenntnis ihrer Ursache voraus, doch die gab Rätsel auf. Weshalb war eine Minderheit von Menschen – circa fünf Prozent – immun gegen die maritime Seuche?

Weshalb wurden Hunde und Vögel seekrank – Dr. Ludwig Pincussen aus Berlin hat sogar Pferde kotzen sehen –, Babys und Elefanten dagegen nicht? Weshalb überwanden die meisten Menschen nach einigen Seetagen ihr Leiden, während andere siech blieben?


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Peter Sandmeyer und Klaus Ensikat

Peter Sandmeyer wurde 1944 geboren, wuchs in Berlin auf und machte dort das Abitur und seinen ersten Segelschein. Er studierte Kulturwissenschaften in Köln und Berlin und promovierte zum Dr. Phil. Nach dem Studium arbeitete er als Autor mehrere Jahre für Rundfunk und Fernsehen. 1981 wechselte er in die Redaktion des stern in Hamburg, für den er seitdem viele große Reportagen und Serien geschrieben hat. Seine Schwerpunkte sind Kulturgeschichte, Ethnologie und Psychologie. Gemeinsam mit dem Psychiatrie-Professor Michael Stark schrieb er mehrere Bücher, als letztes Nimm dein Herz in die Hand. Andere Titel von ihm sind Abenteuer Menschheit, Die sechs Weltreligionen, Die Kunst, zufrieden zu leben und, gemeinsam mit Marc Bielefeld, Die Herausforderer - Deutschland greift nach dem America's Cup. Für mare verfasste er unter anderem Beiträge über die Seekrankheit und eine Expedition in die Wunderwelt des Nordseewatts.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.

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Vita Peter Sandmeyer wurde 1944 geboren, wuchs in Berlin auf und machte dort das Abitur und seinen ersten Segelschein. Er studierte Kulturwissenschaften in Köln und Berlin und promovierte zum Dr. Phil. Nach dem Studium arbeitete er als Autor mehrere Jahre für Rundfunk und Fernsehen. 1981 wechselte er in die Redaktion des stern in Hamburg, für den er seitdem viele große Reportagen und Serien geschrieben hat. Seine Schwerpunkte sind Kulturgeschichte, Ethnologie und Psychologie. Gemeinsam mit dem Psychiatrie-Professor Michael Stark schrieb er mehrere Bücher, als letztes Nimm dein Herz in die Hand. Andere Titel von ihm sind Abenteuer Menschheit, Die sechs Weltreligionen, Die Kunst, zufrieden zu leben und, gemeinsam mit Marc Bielefeld, Die Herausforderer - Deutschland greift nach dem America's Cup. Für mare verfasste er unter anderem Beiträge über die Seekrankheit und eine Expedition in die Wunderwelt des Nordseewatts.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.
Person Von Peter Sandmeyer und Klaus Ensikat
Vita Peter Sandmeyer wurde 1944 geboren, wuchs in Berlin auf und machte dort das Abitur und seinen ersten Segelschein. Er studierte Kulturwissenschaften in Köln und Berlin und promovierte zum Dr. Phil. Nach dem Studium arbeitete er als Autor mehrere Jahre für Rundfunk und Fernsehen. 1981 wechselte er in die Redaktion des stern in Hamburg, für den er seitdem viele große Reportagen und Serien geschrieben hat. Seine Schwerpunkte sind Kulturgeschichte, Ethnologie und Psychologie. Gemeinsam mit dem Psychiatrie-Professor Michael Stark schrieb er mehrere Bücher, als letztes Nimm dein Herz in die Hand. Andere Titel von ihm sind Abenteuer Menschheit, Die sechs Weltreligionen, Die Kunst, zufrieden zu leben und, gemeinsam mit Marc Bielefeld, Die Herausforderer - Deutschland greift nach dem America's Cup. Für mare verfasste er unter anderem Beiträge über die Seekrankheit und eine Expedition in die Wunderwelt des Nordseewatts.

Klaus Ensikat, 1937 geboren, Buchillustrator, Karikaturist, bekam für seine Arbeiten zahllose Auszeichnungen und Preise und für das Gesamtwerk die höchste internationale Ehrung: die Hans-Christian-Andersen-Medaille.
Person Von Peter Sandmeyer und Klaus Ensikat