Eine Werft der Wünsche

Seit der polnische Traditionsbetrieb Stocznia Gdan´ska kaum noch Schiffe baut, konkurrieren auf dem Gelände die großen Visionen – von Stadtplanern und Künstlern

Wer sich der Danziger Werft bei Nacht nähert, erlebt Industrieromantik der stilleren Art. Über dem riesigen Areal am Rand der Stadt, abgetrennt durch rostige Zäune, schweben vereinzelte Lichtkegel durch die dunstige Luft. Kräne dämmern im Dunkeln, ab und an klirrt es irgendwo. Schließlich wird hier immer noch gearbeitet. Wenn auch nicht viel – im Vergleich zu früher.

Von einstmals 18.000 Arbeitern sind 3000 übrig geblieben. Die Rache des nicht mehr existierenden Sozialismus an seinen Demonteuren, könnte man sarkastisch sagen. Früher garantierte die Sowjetunion die Abnahme fast der gesamten Jahresproduktion von rund 25 Schiffen. Seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, als dessen Initialzündung die Gründung der Gewerkschaft Solidarność auf der Stocznia Gdanska gilt, werden hier höchstens noch vier im Jahr gefertigt.

Der weitaus größte Teil der 137 Hektar umfassenden Fläche liegt brach. Am Wachpersonal wurde nicht gespart. Um auf das schlummernde Gelände zu gelangen, muss man streng kontrollierte Eingänge passieren. Ohne Werkausweis geht gar nichts – es sei denn, man ist Künstler.

Seit fünf Jahren gibt es hier Ateliers; Maler und Musiker durften sich in der früheren Telefonzentrale der Werft einrichten. Mittlerweile beherbergt der nüchterne Sechziger-Jahre-Bau rund 50 Künstler aller Couleur. Für 350 Złoty im Monat, knapp 90 Euro, wohnen sie hier ausgesprochen günstig, offiziell allerdings arbeiten sie nur. Ihren Besuch müssen sie an der Pforte ankündigen, selbst das Publikum der alle zwei Wochen stattfindenden Partys und „wernisaz·e“, Vernissagen, meldet sich per Mail an – der Werkschutz führt eine akribische Gästeliste.

Konrad Grotowski, der mit seiner Freundin Maja in einem 20-Quadratmeter-Zimmer inklusive Hochbett und Kochnische lebt, hat dafür Verständnis. Schließlich müsse man das Gelände gegen potenzielle Stahlräuber sichern, das eigene Equipment sei so auch besser geschützt. In der Tat stehen die kargen Räume voller Technik, Mischpulte und Computer surren, online ist hier jeder. Wer auf der Werft sein Atelier hat, muss keineswegs Schiffe malen. Grotowski, zum Beispiel, Architekturstudent im vierten Semester, schult seine Zeichenkunst an Giraffenhälsen. Warum ist er in die „Kolonia Artystów“ gezogen? „Weil wir hier Ruhe haben.“ Es sei denn, das Plenum tagt.

Gerade formulieren die Bewohner einen Vorschlag, die Miete in Kunst zu begleichen, so wie es am Anfang war. Außerdem muss das Bad renoviert werden. Konrad und Maja teilen es sich mit neun anderen auf ihrer Etage. Der Gang davor ist komplett mit Drucksachen tapeziert, darunter die „Zeit“ und anderes Großformatiges aus dem Ausland. Manchmal ist die Ruhe relativ. „Vergangenes Jahr, zum Solidarność Jubiläum, konnte man kaum den Müll runterbringen, ohne von Journalisten befragt zu werden“, erzählt Maja. Derzeit ist es wieder still. Vereinzelte Touristen beäugen den Panzer vor dem Solidarność-Museum und das daneben platzierte Mauerstück, über das der ausgesperrte Lech Wałęsa vor nunmehr 26 Jahren sprang, um zu den Seinen in die Werft zu gelangen.

Wer diese Stille gar nicht mag, ist Roman Sebastyański. Sebastyański arbeitet für Synergia 99. Das ist der Investmentfonds, der 73 Hektar des Werftgeländes gekauft hat, um hier einen neuen Stadtteil zu entwickeln, genauer gesagt, das neue Zentrum der Dreistadt Gdańsk-Gdynia-Sopot, Polens zweitgrößter Bevölkerungsballung. Die zur Verfügung stehende Nettobaufläche entspricht mit 60 Hektar ziemlich exakt jener der Hamburger Hafencity. Auf einem Riesenposter an der Breitseite der früheren Werftverwaltung prangt der Grundriss. Er hängt hier schon fünf Jahre – ein Umstand, der direkt zu Sebastyańskis Leitfrage führt: „Wie können wir die Message verbreiten, dass das Gelände nicht tot ist, sondern kreativ und lebendig?“ Der knapp 40-jährige Marketingdirektor steht vor dem Modell der künftigen Stadt und deutet kopfschüttelnd nach Süden. „Wir sind hier nur drei Kilometer von der Marienkirche entfernt. Und trotzdem ist das Gelände Terra incognita.“ Deswegen hat Sebastyański die Künstler angesiedelt – wer nicht selbst besetzt, wird eben eingesetzt. Mittlerweile gibt es eine Warteliste für die Atelierplätze.

Auch die Vorstandsetage von Synergia, die zu 67 Prozent von Geschäftsleuten aus Boston finanziert wird, hatte nichts gegen den Deal, sagt Sebastyański. Seinen in Warschau sitzenden Chef habe zunächst nur interessiert, dass keiner vom Kran aus in die Becken springt. Jetzt kommt er ab und an selbst zu Vernissagen. Kongresszentren und Luxuslofts sind ja noch nicht zu besichtigen. Der Name „Młode Miasto“, „Junge Stadt“, ist ein provokanter Rückgriff in die Vergangenheit, erklärt Sebastyański. Der Deutsche Orden, der die Stadt 1308 eroberte und ihr bei seinem Abzug 1466 unter anderem die Backsteingebirge der gotischen Kirchen hinterließ, gründete ebenfalls eine „Juvenile Civitas“, aus der allerdings nichts wurde.

Was wird von den ambitionierten Entwürfen tatsächlich gebaut? „Nichts“, antwortet Sebastyański präzise. Immerhin markieren die architektonischen Appetizer den geplanten Straßenverlauf. Da gibt es eine imposante „Road to Freedom Promenade“, die ebenso wie die „Promenade of Joy“ direkt zum Wasser führt. „Wie in Rotterdam oder Baltimore“, sagt Sebastyański, für ihn sind das keine Luftschlösser. Unbeirrt modellieren seine Hände neue Gebäude. „In vier Jahren sind wir so weit.“ Ob es sich dabei dann um ein Supermarktkonglomerat mit angeschlossener Marina handelt oder ob tatsächlich ein vitaler Stadtteil entsteht, ist derzeit völlig offen.

Michał Szlaga wäre es ohnehin am liebsten, alles bliebe wie bisher. „Gerade haben sie vor meinem Fenster einen Schornstein abgerissen“, klagt der Fotograf. Er war 2001 der erste Einwohner der Künstlerkolonie; jetzt denkt er daran, als Erster wieder auszuziehen. „Man kann nicht mehr auf dem Dach sitzen und Bier trinken“, führt er seine Beschwerde weiter. Was nach pubertärer Punkattitüde klingt, hat bei Szlaga einen anderen Hintergrund. Er ist einer der erfolgreichsten Werftbewohner, seine Bilder sind in internationalen Magazinen präsent. Während der fünf Jahre auf der Stocznia hat er sich zum gefragten Profi entwickelt, insbesondere mit den Arbeiten, die die Werft und ihre Menschen thematisieren. Seine Bilder von Ola, die ihren Kiosk vor Tor II als Mischung zwischen Reliquienschrein und Grundversorgung betreibt, sind bis nach Japan gewandert, für seine „Proletariuszka Anna“ hat er vergangenes Jahr den polnischen Grand Press Award bekommen. Das Bild ist in der Tat eindrucksvoll. Mit ihren 153 Zentimetern steht die frühere Kranführerin Anna Walentynowicz sehr gerade in einer völlig zerfallenen Fertigungshalle.


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mare No. 60

No. 60Februar / März 2007

Von Henning Bleyl und Joanna Kosowska

Henning Bleyl, Jahrgang 1969, ist Kulturredakteur der Berliner Tageszeitung. Seine Reise nach Polen ist die Frucht des Erich-Brost-Preises für die Städtepartnerschaft Danzig–Bremen, der in Gestalt eines Reportagewettbewerbs weitergegeben wurde.

Joanna Kosowska, 1974 in Danzig geboren, kennt die Werft seit ihrer Kindheit. Die freie Fotojournalistin lebt in Bremen.

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Vita Henning Bleyl, Jahrgang 1969, ist Kulturredakteur der Berliner Tageszeitung. Seine Reise nach Polen ist die Frucht des Erich-Brost-Preises für die Städtepartnerschaft Danzig–Bremen, der in Gestalt eines Reportagewettbewerbs weitergegeben wurde.

Joanna Kosowska, 1974 in Danzig geboren, kennt die Werft seit ihrer Kindheit. Die freie Fotojournalistin lebt in Bremen.
Person Von Henning Bleyl und Joanna Kosowska
Vita Henning Bleyl, Jahrgang 1969, ist Kulturredakteur der Berliner Tageszeitung. Seine Reise nach Polen ist die Frucht des Erich-Brost-Preises für die Städtepartnerschaft Danzig–Bremen, der in Gestalt eines Reportagewettbewerbs weitergegeben wurde.

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