Eine Gesellschaft, vom Winde verweht

Die Segelqualle ist der Champion des Hochsee-Segelns

Grausam riesig, nahezu unendlich und einsam erscheint uns die Oberfläche tropischer Ozeane. Dieser strahlend blaue Wasserspiegel ist ein denkbar anstrengender Lebensraum: Schwere Regengüsse folgen auf endlose Sonnenstunden mit unerträglicher UV-Strahlung, meterhohe Dünung wirft alles Oberflächennahe durcheinander, Stürme zerstören vollends jegliche Wasserschichtung. So bleibt das Leben auf der Hochsee einigen wenigen Spezialisten vorbehalten.

An der Grenzschicht von Ozean und Atmosphäre sammeln sich organische Substanzen und Nährstoffe, die genügend Nahrung für Bakterien, Algen, Einzeller, Kleinkrebse und Fischlarven bieten. Obenauf schwimmt eine spezielle Welt der

Räuber, wie der flügellose Wasserläufer Halobates, das einzige Insekt der Hochsee, oder die lila Veilchenschnecken auf ihren Schaumflößen. Wie mag es dieser halbeingetauchten Tierwelt an der Grenzschicht von Ozean und Atmosphäre, dem Pleuston (von griechisch „pleustikos“, zum Schiffen geeignet), während eines Sturms ergehen?

Ein Nesseltier ist der wahre Champion des Hochseelebens: die Segelqualle Velella velella, nach dem lateinischen „velum“, Segel, benannt. Segeln bezeichnet die Fähigkeit, die Kraft des Windes zur Fortbewegung auf dem Wasser zu nutzen. Auf einem aufgepumpten Floß aus Luftkammern von vier bis zehn Zentimetern Länge ist ein kleines, dreieckiges Segel befestigt. Damit erreicht die Segelqualle bei Windstärke 2, wenn Jollen sich nicht einmal bewegen, Geschwindigkeiten bis 6,2 Meter pro Minute. Bei guten Winden legt sie mehrere Kilometer am Tag zurück.

Mit solchen Leistungen ist es nicht verwunderlich, daß die Segelkonstruktion der auch „Segler vor dem Wind“ genannten Qualle eine ergiebige Quelle ingenieurtechnischer Anregungen zum Bootsbau bietet. So zeigt Velella ein fest verankertes, rundliches Dreieckssegel, das den Wind optimal ausnutzen kann. Das Segelmaterial besteht aus mehreren hauchdünnen, luftgefüllten Röhren aus Knorpel, die aneinandergeklebt und mit Hohlstreben verfestigt sind. Es ist extrem stabil und trotzdem sehr leicht, aber auch nicht zu groß, was ein Kentern verhindert. Und während oben die Winde das Tier zu verdriften suchen, hält die Wasserreibung an den herunterhängenden Tentakeln die Qualle zurück, wodurch sie quasi als Kiel fungieren.

Das Segel des auch noch Sankt-Peters-Schifflein genannten Tieres – der Heilige Petrus ist der Schutzpatron der Fischer – ist zirka 40 Grad quer zur Körperachse auf dem Floß justiert. Ändert sich die Windrichtung und dreht das Tier um 180 Grad, hält Velella dank der festen Stellung und dem S-förmigen Grundriß des Segels den Kurs weiter, auch wenn sie nun „rückwärts“ schwimmt.

Weht der Wind stetig in eine Richtung, gehen die Segler unweigerlich stranden. Die Lösung der Evolution für dieses Problem ist bestechend verschwenderisch: Es gibt rechts- und linksstehende Formen in einem Schwarm. Dabei segeln die linksseitigen Quallen stets nach rechts zum Wind, die rechtsseitigen nach links. Sollte also die Segelstellung der einen Form direkt zur Strandung an der Küste führen, werden die Segler mit entgegengesetzter Segelstellung vom Land abgetrieben und gerettet. Vor Kalifornien sind 40 Prozent rechtssegelnd, so daß die nördlichen Winde die Quallen von der Küste fernhalten. Unter besonderen Wind- und Strömungsverhältnissen treiben aber ganze Flotten von mehreren Millionen dieser Tiere auf den Strand und färben ihn blau.


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mare No. 11

No. 11Dezember / Januar 1998

Von Onno Groß

Onno Groß, 1964 geboren, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. Für mare schrieb er zuletzt über Tintenfische (No. 9)

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Vita Onno Groß, 1964 geboren, ist promovierter Meeresbiologe und lebt in Hamburg. Für mare schrieb er zuletzt über Tintenfische (No. 9)
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