Eine Frage der Zeit

Eine innere Uhr, ähnlich der wesentlich höherer Lebewesen, steuert die Existenz des winzigen, aber an Biomasse bedeutendsten Tieres der Welt, des Atlantischen Krills

Wenn es Herbst wird,beginnt der Krill zu wandern. Bei Sonnenaufgang klappt er seine feinen Glieder an den Panzer und lässt sich Hunderte Meter hinab in die Tiefe des Antarktischen Ozeans gleiten. Am Abend dann, wenn Robben, Vögel und Pinguine nicht mehr so drängend hinter ihm her sind, schieben seine vielen kleinen Füßchen ihn wieder nach oben. Behutsam tastet er sich vor, die Augen wie Scheinwerfer nach vorne gerichtet.
Im Winter verschwindet das Meer rund um den Südpol unter Eisplatten, die Temperatur fällt auf minus 65 Grad Celsius, die Sonne scheint nur noch wenige Stunden am Tag. Der Krill bewegt sich jetzt reduziert. Hin und wieder grast er die sporadischen Algen ab, die an der Unterseite von Eisschollen eingefroren sind. Doch eigentlich frisst er kaum.
Er frisst selbst dann nicht, wenn Wissenschaftler dem Krill in dieser Zeit Nahrung geben. Er verbleibt im Wintermodus, unabhängig von dem Fressen, das er haben könnte, oder von Weibchen, die er befruchten könnte. Woher aber weiß der Krill, dass gerade Winter ist, wenn es nicht vom Umfeld abzuhängen scheint? Wie erkennt er Jahreszeiten?
„Der Krill fährt seinen Stoffwechsel nicht etwa herunter, weil es kein Futter mehr gibt“, sagt Mathias Teschke, „sondern weil das Licht ihm sagt: Jetzt ist Ruhezeit.“ Der Biologe blickt aus dem Fenster seines Labors im Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung
in Bremerhaven. Der Wind weht kräftig gegen das Gebäude am Hafen, riesige Kräne hieven bunte Container über das braune Wasser auf die Schiffe. Hier untersucht der 40-Jährige das garnelenähnliche Krebstier.
Mit einer Körperlänge von maximal sechs Zentimetern ist der Antarktische Krill eher ein Winzling – und doch die wichtigste Nahrungsquelle für alle höheren Tiere in der Antarktis, denn von ihm gibt es Milliarden. Alle Krills dieser Erde bringen es auf geschätzte 500 Millionen Tonnen Gewicht. Wir Menschen schaffen nur etwa 430 Millionen Tonnen. In Bezug auf die Biomasse gelten die Krebstierchen somit als erfolgreichste Tierart der Welt. Außerdem rühren Krillschwärme bei ihren Wanderungen das Meerwasser so geschickt um, dass sich die in den Ozeanen befindlichen Nährstoffe gut verteilen. Das Meer ist nur deshalb so fruchtbar, weil es den Krill gibt.
Teschke interessiert sich vor allem für die Gene des Tieres. Sie sind der Schlüssel, um das Verhalten des Antarktischen Krills zu verstehen. Mal ist er quirlig aktiv, mal lässt er sich reglos in die Tiefe sinken, mal schwimmt er in Schwärmen mit Millionen anderen dicht unter der Wasseroberfläche. Oder er wandert am Tage Hunderte Meter hoch und runter, ein Verhalten,
das Fachleute diurnale Vertikalwanderung nennen. Dadurch schützt sich der Krill vor Räubern. Je nach Jahreszeit verändert das Krebstier also komplett seine Lebensweise. „Der Lebensraum, in dem der Krill lebt, ist nirgendwo auf der Welt saisonaler“, sagt Teschke, „und der Krill hat sich perfekt daran angepasst.“
Die Jahreszeiten in der Antarktis lassen sich durch eines immer klar erkennen: Licht. „Wir dachten uns, wenn der Krill die Tageslichtlänge irgendwie messen könnte, wüsste er immer, wo er sich gerade in der Saison befindet“, sagt Teschke. So könnte der Krill schon im Herbst beginnen, seinen Stoffwechsel herunterzufahren, und im Frühjahr die Geschlechtsreife starten. All das wäre erklärbar, hätte der Krill eine Art biologischen Zeitgeber, der dafür sorgt, dass die vielen Abläufe im Körper mit der Umwelt synchron laufen – eine innere Uhr.
Bei Menschen wurde diese innere Uhr schon in den 1970er Jahren entdeckt. Der sogenannte Suprachiasmatische Nucleus sitzt nur wenige Zentimeter hinter den Augen in unserem Kopf. Diese innere Uhr steuert Schlafrhythmus, Hormonproduktion, Verdauung, Körpertemperatur. Fällt sie aus oder gerät sie aus dem Takt, werden Menschen krank, leiden unter Depressionen oder Schlaflosigkeit. Damit unser Körper in unserem Lebensumfeld funktioniert und es schafft, sich ständig neu anzupassen, ist die innere Uhr enorm wichtig. Hat der Krill also auch eine solche innere Uhr? Und wenn ja, wie sieht sie aus? Teschke und seine Forscherkollegen be-
gaben sich auf die Suche.
Fast 24 Stunden lang steht im antarktischen Sommer die Sonne knapp über der Erdkrümmung am Himmel: Dauerlicht. Nun beginnt die aktivste Zeit des Krills. Die Krillmännchen packen ihre Spermapakete an die Genitalöffnung der Weibchen. Werfen sie ihre Eier ab, werden diese im Vorbeigleiten befruchtet und sinken Tausende Meter hinab in die Tiefe. Schritt für Schritt arbeiten sich die Larven von dort wieder nach oben.


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mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Maria Rossbauer und Walther-Maria Scheid

Maria Rossbauer, Jahrgang 1981, wohnt in Berlin und arbeitet dort als freie Wissenschaftsjournalistin. Mit der inneren Uhr setzte sie sich zum ersten Mal in ihrer Biologiediplomarbeit auseinander. Sie erforschte dafür am Max-Planck-Institut für Psychiatrie den Schlafrhythmus von Mäusen.

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Vita Maria Rossbauer, Jahrgang 1981, wohnt in Berlin und arbeitet dort als freie Wissenschaftsjournalistin. Mit der inneren Uhr setzte sie sich zum ersten Mal in ihrer Biologiediplomarbeit auseinander. Sie erforschte dafür am Max-Planck-Institut für Psychiatrie den Schlafrhythmus von Mäusen.
Person Von Maria Rossbauer und Walther-Maria Scheid
Vita Maria Rossbauer, Jahrgang 1981, wohnt in Berlin und arbeitet dort als freie Wissenschaftsjournalistin. Mit der inneren Uhr setzte sie sich zum ersten Mal in ihrer Biologiediplomarbeit auseinander. Sie erforschte dafür am Max-Planck-Institut für Psychiatrie den Schlafrhythmus von Mäusen.
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