Ein Winter in Sorrent

Im Herbst 1876 reist Friedrich Nietzsche mit zwei Gefährten zu einer Freundin nach Sorrent. An der lieblichen Küste bauen sie ihr Luftschloss: eine universale Akademie nach dem Vorbild Aristoteles’

Er will nur fort aus Basel und zur ersehnten Reise in den Süden aufbrechen. Denn für den Norden, so hält Friedrich Nietzsche fest, reiche seine Kraft nicht mehr. Überhaupt laste ein Streifen schwärzester Melancholie auf ihm, aber niemand solle denken, er sei moros geworden. Seit Langem fesseln ihn heftige Kopfschmerzen ans Krankenbett, keine Kur hat ihm bisher helfen können. Auch sein Augenlicht befindet sich in einem furchtbaren Zustand. „Wörter werden zu Klumpen“, wird er bald notieren.

Es ist der 24. Oktober 1876, als Nietzsche in Genua ein Schiff betritt, das ihn nach Neapel bringt. Der 32-jährige Professor für Altphilologie hofft, am Tyrrhenischen Meer zu gesunden, und wünscht sich nicht viel mehr als „milde Luft, Spaziergänge, einfach nur Spaziergänge in lauer Luft, und dunkle Zimmer“. Sollte er seine Krankheiten überwinden, will Nietzsche nicht ausschließen, nie wieder in sein geordnetes Leben an der Basler Hochschule zurückzukehren. Einem Freund gegenüber hat er geklagt: „Schleppen wir uns noch ein paar Jahre durch diese Universitätsexistenz, nehmen wir sie wie ein lehrreiches Leidwesen.“ Ein radikales Wahrheitswesen sei dort nicht möglich, aber genau davon träumt er: von einer Akademie für freie Geister, wo jeder Lehrende ein Lernender sein soll. 

Im 19. Jahrhundert raten Ärzte vielen erkrankten Menschen zu einem Aufenthalt im Süden. Die Luft, das Licht, die Wärme und das Meer, sagen sie, wirke wohltuend. Für Nietzsche ist der Süden jedoch mehr als eine Himmelsrichtung, er ist das Sinnbild einer erstrebenswerten, von der griechischen Antike inspirierten Welt. Unter Süden versteht er immer auch die Zeit der ersten Denker, darunter besonders Heraklit, jener Philosoph, der an keine ewigen Ideen glaubte, sondern im permanenten Werden und im Wandel ein allgemeines Lebensprinzip erkannte. Wie passend ist es da, dass viele Orte am Golf von Neapel einst von griechischen Kolonialisten gegründet wurden. Und zeigt sich ein Wandel nicht besonders eindrücklich beim Blick auf das Meer? Mit solchen Gedanken reist Nietzsche an Bord des Dampfschiffs seinem „Aufenthalt in einem Glückstempel“ entgegen.

Zwei Freunde begleiten ihn: der 19-jährige, an Tuberkulose erkrankte Student Albert Brenner, der ihm als Sekretär dient und ihn auf Spaziergängen begleitet; in den kommenden Monaten wird Brenner in etlichen Briefen vom Alltag der kleinen Gemeinschaft berichten. Dabei ist auch der 26-jährige, kurz zuvor mit seiner Habilitation gescheiterte Philosoph Paul Rée. Kompromisslos hat dieser das im Deutschen Reich verbreitete metaphysische Denken infrage gestellt – und muss seither um seine Karriere als Professor bangen. Für Nietzsche hingegen ist die ketzerische, an Darwins Theorien orientierte Gedankenwelt des Freunds eine Inspiration.

Ende Oktober erreicht das Schiff tief in der Nacht Neapel. Vom Hafen aus lassen sie ihr Gepäck in eine deutsche Pension tragen, in der eine befreundete Dame wartet: Malwida von Meysenbug, bald 60 Jahre alt, führt ein freies, emanzipiertes und weltoffenes Leben. Im Frühjahr 1872 haben sich Nietzsche und von Meysenbug im Haus von Richard und Cosima Wagner kennengelernt, deren Trauzeugin sie war. Unter ihrer Obhut, so ist sie sich gewiss, werden Nietzsche und Brenner sicher genesen. 

Gleich am ersten Abend bricht Nietzsche beim Anblick des Golfs von Neapel in einen Jubel aus. Sie bleiben jedoch nicht in Neapel, sondern fahren weiter in den mondänen Küstenort Sorrent, von dem bereits Lord Byron, Goethe, Henrik Ibsen und Charles Dickens geschwärmt hatten.

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mare No. 150

mare No. 150Februar / März 2022

Von Dirk Liesemer

Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, ist Autor in München. Dieser Tage erscheint im mareverlag sein Nietzsche-Roman „Tage in Sorrent“, den er mit seiner Frau Andrea Liesemer geschrieben hat. Im „Salon“ in dieser Ausgabe erzählen sie die Entstehungsgeschichte ihres Buchs.

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Vita Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, ist Autor in München. Dieser Tage erscheint im mareverlag sein Nietzsche-Roman „Tage in Sorrent“, den er mit seiner Frau Andrea Liesemer geschrieben hat. Im „Salon“ in dieser Ausgabe erzählen sie die Entstehungsgeschichte ihres Buchs.
Person Von Dirk Liesemer
Vita Dirk Liesemer, Jahrgang 1977, ist Autor in München. Dieser Tage erscheint im mareverlag sein Nietzsche-Roman „Tage in Sorrent“, den er mit seiner Frau Andrea Liesemer geschrieben hat. Im „Salon“ in dieser Ausgabe erzählen sie die Entstehungsgeschichte ihres Buchs.
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