Ein Ozean voller Erinnerungen

Marcel Proust, Schöpfer eines der bedeutendsten Erzählwerke des 20. Jahrhunderts, fand seine Inspiration an der Küste der Normandie. Er machte das „Grand Hôtel“ in Cabourg zum Schauplatz seines monumentalen Romans „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“

Er schrieb ganze Nächte lang, meistens liegend im Bett, sich mit viel Kaffee wach haltend und wegen seiner Asthmaanfälle den Geruch von Räucherstäbchen einatmend. Wenn er dann morgens die seidenen Vorhänge seines Hotelzimmers zurückschob, riss ihn der Ausblick auf Seepromenade und Strand aus seinem fiebrigen Arbeitseifer. Er schwärmte von den Wellenlinien, die für ihn von durchschimmernder Weite waren, „duftig und bläulich wie jene Gletscher, die man auf dem Hintergrund der Bilder früher toskanischer Maler erkennt“. Die auf den Wogen schaukelnden Möwen erinnerten ihn an weiße Blütenblätter. Und die Masten der Segelschiffe kamen ihm filigran wie auf einem japanischen Holzschnitt vor.

Marcel Proust verbrachte zwischen 1907 und 1914 jeden Sommer im „Grand Hôtel“ im normannischen Seebad Cabourg. Hier kurierte er seine schwache Gesundheit und fand Inspiration für sein Monumentalwerk, den siebenteiligen, mehr als 4000 Seiten umfassenden Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ („À la recherche du temps perdu“). Dieses literarische Eintauchen in einen Ozean voller Erinnerungen, Eindrücke und Déjà-vu-Erlebnisse ist nicht wenig geprägt von Prousts Faszination für das Meer und die Unterwasserwelten.

Bereits als Kind fühlte Proust, 1871 geboren, sich vom Hin und Her der Gezeiten und von den Geheimnissen nebelumhüllter Klippen angezogen. Für die vermögende Familie – die Mutter stammte aus einer jüdischen Bankiersfamilie, der Vater war ein angesehener Arzt – gehörten mehrwöchige Aufenthalte in den französischen Badeorten zum bourgeoisen Ritual. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verband eine direkte Eisenbahnlinie Paris mit der Normandie, und bis dahin dösige Fischerdörfer wie Deauville, Trouville, Dieppe oder Le Tréport verwandelten sich zu glitzernden Belle-Époque-Sommerfrischen mit Hotelpalästen, Alleen, Tennisplätzen und Pferderennbahnen. Als Erwachsener schwärmte Proust von „jenen Jahren am Meer, als Großmutter und ich, in eins zusammengeschmolzen, plaudernd gegen den Wind angingen“.

Ein sinnliches Kindheitserlebnis war auch das Eintunken einer Madeleine in einen Kräutertee. Als ob Fischer das in die Literaturgeschichte eingegangene Sandgebäck in ihren Netzen gefangen hätten, verglich er es mit der gefächerten Schale einer Jakobsmuschel.

Als Proust sich nach aufgegebenem Jurastudium der Literatur zuwandte, führten seine schöpferischen Erkundungsreisen immer wieder zu Wasserwelten. Auf den Spuren des englischen Kunsthistorikers und Sozialphilosophen John Ruskin, vom dem Proust zwei Bücher ins Französische übersetzte, erforschte er Venedig. Die Lagune und die Kanäle waren „wie die geheimnisvolle Hand eines Genius, der mich in die entlegensten Winkel dieser Stadt des Orients geführt hätte“. Selbst den Genfersee verglich er mit einem Meer, und er begeisterte sich für Hafenstädte wie Brest, Amsterdam, Rotterdam oder Ostende.

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mare No. 143

mare No. 143Dezember 2020 / Januar 2021

Von Rob Kieffer

Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Gern würde er einmal im mythischen Zimmer 414 des „Grand Hôtel“ übernachten. Doch dafür muss man Geduld haben. Prousts stilgetreu rekonstruiertes Zimmer ist stets Monate im Voraus ausgebucht.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Gern würde er einmal im mythischen Zimmer 414 des „Grand Hôtel“ übernachten. Doch dafür muss man Geduld haben. Prousts stilgetreu rekonstruiertes Zimmer ist stets Monate im Voraus ausgebucht.
Person Von Rob Kieffer
Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Autor in Luxemburg. Gern würde er einmal im mythischen Zimmer 414 des „Grand Hôtel“ übernachten. Doch dafür muss man Geduld haben. Prousts stilgetreu rekonstruiertes Zimmer ist stets Monate im Voraus ausgebucht.
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