Ein Hirte unter Fischern

Der Inder Thomas Kocherry predigt Gottes Wort und Widerstand gegen die internationalen Fischfangflotten

Thomas Kocherry ist müde. Er klammert sich ans Mikrofon, und nur dank der Lautsprecher erhält seine schleppende Stimme Kraft. Er spricht zu den Fischern von Kollam im Süden des Bundesstaats Kerala. Unter einem Wellblechdach sitzen sie vor ihm, bärtige Männer in verblichenen Hemden, die Haut fast schwarz gebrannt, Salzwasser hat ihre Haare festgebacken. Nach der Arbeit sind sie in ihren Plastiksandalen vom Strand hochgekommen, 200 sind es, und sie sehen aus, als könnte ihr Leben nur besser werden.

Dann wird Kocherrys Stimme plötzlich lauter. „Was“, schreit der 52-Jährige, „haben uns die Europäer gebracht, als sie vor 500 Jahren in Indien landeten?“ Kocherry lässt die Frage im Raum stehen, er hat Sinn für dramatische Pausen. „Dreck!“ Kocherry brüllt fast. „Dreck aus ihren Schiffen, den sie als Ballast mit sich führten!“ Die Fischer murren. Aber der Pfarrer ist noch nicht am Ende. „Und was bringen sie uns heute? Immer noch Dreck!“

Dreck, das sind vor allem jene riesigen modernen Fangschiffe der westlichen Länder, die das Arabische Meer durchpflügen und fast nichts zum Überleben der hiesigen Fischer übrig lassen. Dreck ist für ihn „die Globalisierung, der freie Fluss von Kapital, der Profit weniger auf Kosten vieler“.

Es ist kurz vor Beginn der Monsunzeit, und täglich hält Kocherry seinen Vortrag, er reist als Wanderprediger von Ort zu Ort durch das südliche Indien. Kocherry bereitet eine Protestaktion vor, denn die Fischer Indiens müssen wieder auf die Straße. Die Zeit des Widerstands ist gekommen, wie 1989, als er 4000 Kilometer entlang der Küste des Subkontinents unterwegs war. 25000 Menschen gingen damals hinter seinem Jeep her. Sie sangen und tanzten. Sie waren friedlich, bis die Polizei kam. Dann blieben zwei Dutzend verletzt liegen, mit Kugeln im Körper.

Was Kocherry jetzt plant, wird noch viel gewaltiger, seine größte Aktion. Sechs der insgesamt zehn Millionen Fischer sollen Ende Juli 2002 auf die Straße, mehr denn je. Es geht um alles.

Tage nach dem Auftritt in Kollam sitzt er auf der Veranda seines Hauses. Er sitzt da mit Blick auf Fischer, die im Schatten der Palmen ihre Netze flicken und singen. Im Inneren des Gebäudes verkünden Plakate seine Botschaften: „Die Globalisierung zerstört unser Leben!“ – „Handele oder stirb!“.

Hier führt Kocherry seine Fäden zusammen, und hier versucht er auch, zur Ruhe zu kommen. Am Morgen setzt er sich mit seinem halben Dutzend Helfer in einen Kreis und liest aus der Bibel. Er, der einstige Pfarrer, meditiert und betet mit ihnen; er ermutigt sie, er beschwört sie, mit ihm gegen die milliardenschwere Maschinerie der „Fischvernichter“ zu kämpfen, und er dankt ihnen dafür, dass sie das für Gotteslohn tun; er dankt all jenen im Gebet, die seiner kleinen Truppe Geld für Bustickets spenden und ihm sogar ein Mobiltelefon zur Verfügung stellen. Und er hofft, dass alle seine Förderer verstehen, wenn er, Thomas Kocherry, einen US-amerikanischen Umweltschutzpreis in Höhe von 150000 Dollar ausschlägt, weil das Geld von der Sun Oil Company und damit aus der falschen Ecke kommt.

Thomas Kocherry wächst im Hinterland des südindischen Distrikts Kerala als Sohn eines Bauern auf. Er besucht die katholische Missionsschule und das College, er studiert Chemie und Rechtswissenschaften. Doch seine Lebensaufgabe kann nur sein, anderen Menschen in ihrer Not zu helfen. Kocherry lässt sich zum Priester weihen. Im Alter von 32 Jahren übernimmt er seine erste Gemeinde. Potthura, ein kleines Fischerdorf, liegt im Süden Keralas auf einer Landzunge nahe dem hellen Blau der Arabischen See.

Kocherry lehrt die Menschen, was in den heiligen Schriften geschrieben steht, und er lernt von ihnen zu fischen. Immer wieder paddelt er mit den Fischern hinaus in den kleinen Booten, deren geschwärzte Planken mit Schnüren aus Kokosfasern zusammengebunden sind.

Er sieht, dass die Fischer nur so viel aus dem Meer nehmen, wie sie selbst brauchen und wie die Händler aus der Stadt kaufen. Die Fischer nennen das Meer ihre Mutter, Kadalamma, und sie lassen diese Mutter während der Zeit des Monsuns ruhen, damit sie sich erholen kann. „Wie eine Frau, die menstruiert“, sagen die Fischer.

Kocherrys Wandlung vom Prediger zum Agitator erfolgt 1975, als die Regierung Keralas vor seinen Augen die Boote seiner Fischer konfisziert. Die Männer können die Wucherzinsen für die Kredite nicht mehr bezahlen, die ihnen die korrupten Mitglieder derselben Regierung für den Kauf von Motoren vermittelt haben. Kocherry beginnt zu verhandeln. Als die Gespräche scheitern, droht er mit einem Hungerstreik vor dem Regierungssitz – und bekommt, zum eigenen Erstaunen, die Boote sofort frei.

Das Ereignis erleuchtet Thomas Kocherry. Er erfährt, was Mut und Willen erreichen können. Öffentliches Hungern wird in der Folge zu seiner besten Waffe. Gleichzeitig wird ihm bewusst, welche einzigartige Kraft die zehn Millionen Fischer Indiens sein können. Erheben sie sich, erzittert das Land.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 35. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Christian Schmidt und Wolf Böwig

Der Zürcher Autor Christian Schmidt, geboren 1955, war beeindruckt von der Energie Kocherrys: Nach manchen Diskussionen bis in den frühen Morgen zogen die Fischer los zum nächsten Fang – und Schmidt und Kocherry ins nächste Dorf, wo man den streitbaren Pfarrer bereits erwartete.

Wolf Böwig, Jahrgang 1956 und Mitglied der Schweizer Fotografenagentur Lookat, berichtet seit mehr als zehn Jahren aus Afghanistan, Iran und Indien. Die meisten seiner preisgekrönten Reportagen machte er an sozialen Brennpunkten Asiens.

Mehr Informationen
Vita Der Zürcher Autor Christian Schmidt, geboren 1955, war beeindruckt von der Energie Kocherrys: Nach manchen Diskussionen bis in den frühen Morgen zogen die Fischer los zum nächsten Fang – und Schmidt und Kocherry ins nächste Dorf, wo man den streitbaren Pfarrer bereits erwartete.

Wolf Böwig, Jahrgang 1956 und Mitglied der Schweizer Fotografenagentur Lookat, berichtet seit mehr als zehn Jahren aus Afghanistan, Iran und Indien. Die meisten seiner preisgekrönten Reportagen machte er an sozialen Brennpunkten Asiens.
Person Von Christian Schmidt und Wolf Böwig
Vita Der Zürcher Autor Christian Schmidt, geboren 1955, war beeindruckt von der Energie Kocherrys: Nach manchen Diskussionen bis in den frühen Morgen zogen die Fischer los zum nächsten Fang – und Schmidt und Kocherry ins nächste Dorf, wo man den streitbaren Pfarrer bereits erwartete.

Wolf Böwig, Jahrgang 1956 und Mitglied der Schweizer Fotografenagentur Lookat, berichtet seit mehr als zehn Jahren aus Afghanistan, Iran und Indien. Die meisten seiner preisgekrönten Reportagen machte er an sozialen Brennpunkten Asiens.
Person Von Christian Schmidt und Wolf Böwig