Ein Fisch aus dem Wunderland

Wie sie leben und wie sie lieben: Das wahre Wesen der Seepferdchen ist noch nicht durchschaut

Wenn in den flachen Küstengewässern des Pazifiks der Morgen erwacht, nimmt ein zauberhaftes Unterwasserschauspiel seinen Lauf. Zarte Gestalten schweben scheinbar mühelos im grünen Dickicht der Seegraswiesen aufeinander zu und bilden Pärchen. Auf den ersten Blick erwecken sie den Eindruck, als habe die Evolution bei ihrer Erschaffung gehörig von anderen Lebewesen abgekupfert.

Bei näherem Hinsehen entpuppen sie sich allerdings als Tiere, die so wundersam sind, dass sie lange Zeit eher der Mythologie als der Wirklichkeit zugeordnet wurden. Sie besitzen den aristokratischen Kopf eines Pferdes und den langen, beweglichen Schwanz eines Affen. Ihre Bauchtasche erinnert an den Beutel eines Kängurus, und ihre Glotzaugen können sie unabhängig voneinander hin- und herrollen wie ein Chamäleon.

Finden zwei dieser seltsamen Wesen im Morgengrauen zueinander, begrüßen sie sich mit einem anmutigen Kopfnicken, schlingen ihre Schwanzspitzen umeinander und turteln eng verbandelt durch die nähere Umgebung. Zuweilen halten sie inne und legen ihre langen Schnauzen aneinander, sodass es wie ein Kuss aussieht. Dann wieder umkreisen sie sich minutenlang. Ihre Körper schillern dabei in wechselnden Farbtönen. Nach einiger Zeit lösen sich die Leiber voneinander, jedes Geschöpf geht wieder seinen eigenen Weg. Der Liebestanz der Seepferdchen ist für diesen Tag zu Ende.

Was es mit der Natur dieser ungewöhnlichen Tiere auf sich hat, blieb lange Zeit unerforscht. In Kunst und Literatur hatten die schuppenlosen Fische ihren Platz gefunden, doch kaum jemand scherte sich um ihr wahres Wesen. Aus fossilen Funden von verwandten Arten wie den Seenadeln folgerten Wissenschaftler, dass die ersten Exemplare der vermeintlich träumerischen Tiere vor weniger als 40 Millionen Jahren ins irdische Leben geboren wurden. Genaueres ist nicht bekannt. „Ein echtes fossiles Seepferdchen hat man bei den paläontologischen Untersuchungen noch nicht entdeckt“, erklärt Sara Lourie, die sich an der McGill-Universität im kanadischen Montreal mit der Klassifizierung und Erhaltung der Tiere beschäftigt.

Gemeinsam mit Amanda Vincent, der international renommierten Vorreiterin in der Seepferdchen-Forschung (siehe Porträt auf Seite 76), und mit Heather J. Hall, die an der Zoological Society of London für das „Project Seahorse“ zuständig ist, hat die 26-jährige Biologin im vergangenen Jahr das weltweit einzige, englischsprachige Fachbuch über Seepferdchen veröffentlicht. Das Wissen um die Tiere hat Gestalt angenommen.

Die Seepferdchen sind in den flachen Küstengewässern der tropischen oder gemäßigten Breiten rund um den Erdball zu finden. Häufig leben sie zwischen Seegräsern, die die sandigen und schlammigen Küsten umsäumen. Andere sind in Mangrovenwäldern und Korallenriffen zu Hause. Nur wenige wagen sich bis in die weniger salzhaltigen Meeresarme vor.

Alle bislang untersuchten Seepferdchen lassen sich 32 Arten zuordnen. So lautet die aktuelle Einschätzung. Vor sechs Jahren waren es noch 35 Arten, davor 28. In Museen, privaten Sammlungen und in der Literatur kursieren über 120 verschiedene Bezeichnungen. Mit der steigenden Bedrohung der Tiere durch den Menschen haben diese Schwankungen nichts zu tun. Seepferdchen lassen sich auch wissenschaftlich gesehen nicht gerne in Schubladen stecken.

Als Meister der Tarnung legen sich Seepferdchen nämlich immer mal wieder ein neues Outfit zu. Innerhalb von Minuten wechseln sie ihre Farbe, sind plötzlich grasgrün, taubenblau oder cremeweiß, haben gelbe Punkte, schwarze Streifen oder ein fast schon militärisch anmutendes grün-braunes Fleckenmuster.

Der Täuschung nicht genug, können die Tiere auch noch ihre Körperform kaschieren. Was dick ist, wird zwar nicht dünn, aber mit Hilfe von faden- oder lappenähnlichen Auswüchsen ihrer Haut können sie die Unterwasservegetation nachahmen. Wenn sie dazu noch den richtigen Farbton auflegen, sind sie im Wirrwarr eines Algengeflechts nahezu unsichtbar.


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mare No. 21

No. 21August / September 2000

Von Ute Schmidt

Ute Schmidt, Jahrgang 1966, ist Biologin und arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 16 schrieb sie über Biolumineszenz: „Lichtgestalten der Tiefsee“

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Vita Ute Schmidt, Jahrgang 1966, ist Biologin und arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 16 schrieb sie über Biolumineszenz: „Lichtgestalten der Tiefsee“
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Vita Ute Schmidt, Jahrgang 1966, ist Biologin und arbeitet als freie Journalistin in Solingen. In mare No. 16 schrieb sie über Biolumineszenz: „Lichtgestalten der Tiefsee“
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