Ein Engel am Drücker

In der Kubakrise im Oktober 1962 stand die Welt auf Messers Schneide. Ein russi­scher Seemann verhinderte den Weltkrieg

Was für ein Leben! Weltbewegend im wahrsten Wortsinn und von tödlicher Dialektik – und doch zunächst im Dunkel der Zeitgeschichte fast versunken. „Ohne ihn gäbe es die Welt nicht mehr, keine Frage“, sollte später seine Witwe Olga sagen, eine Einschätzung, mit der sie da längst nicht mehr allein stand. Doch 50 Jahre mussten nach den Tagen der Kubakrise vergehen, bis auf einer internationalen Historikertagung in Havanna 2002 vollends ins öffentliche Bewusstsein rückte, was es mit der Rolle und Bedeutung des U-Boot-Offiziers Wassili Alexandrowitsch Archipow tatsächlich auf sich gehabt hatte. Da lag er selbst schon vier Jahre unter der heimatlichen Erde in Kupawna bei Moskau, gestorben an den Spätfolgen eines nuklearen Krisenfalls mit kaum weniger Katastrophenpotenzial als jenem in der Karibik.

Wäre das Schicksal immer gerecht, so wäre dies nichts anderes als ein veritables Heldenleben geworden. Aber so wenig es dem Sohn einer Bauernfamilie an der Wiege gesungen war, dass er einmal die Welt retten würde, so spät kam der Ruhm und blieb auch noch vergleichsweise blass, gemessen an seinem Verdienst, das gerade nicht aus einer Tat, sondern aus tapferer Verweigerung erwuchs. Es war ein Leben, das auf wahrhaft tiefgründige Weise von diesem Paradoxon geprägt wurde – und gleich doppelt von der großen Frage „Was wäre gewesen, wenn …?“.

Ganz knapp ließe es sich auch mit zwei nautischen Kürzeln markieren: „K-19“ und „B-59“.

Schon früh hatte es Archipow, Jahrgang 1926, zur militärischen Seefahrt gezogen. Mit 16 kam er zur Leningrader Marinespezialschule, wurde dann Offiziersschüler und nahm 1945 mit der Pazifikflotte an den Kämpfen gegen die Japaner teil. Nach dem Zweiten Weltkrieg absolvierte er die Kaspische Offiziershochschule in Baku und qualifizierte sich später für leitende Funktionen auf U-Booten. Mit Mitte dreißig, als Erster Offizier an Bord des U-Boots „B-59“ und dem Kommandanten gleichgestellt, hatte er in jenen denkwürdigen Oktobertagen des Jahres 1962 also eine ordentliche Karriere im Dienst der ruhmreichen Roten Flotte vorzuweisen. Einschließlich einer Erfahrung von kaum minderer Brisanz als jener, auf die er nun zusteuerte.

Das seinerzeit moderne, dieselelektrische U-Boot der Foxtrot-Klasse (91 Meter lang, 70 Mann Besatzung, 280 Meter Tauchtiefe, zehn Torpedorohre) war zusammen mit drei anderen Schiffen des Typs Anfang Oktober vom Eismeerhafen Poljarny Richtung Kuba ausgelaufen, um zunächst das dortige Agieren der Sowjets abzusichern und die Frachter mit den Atomraketen an Bord zu eskortieren. Als die Kubakrise dann virulent wurde und mit der Verhängung der Seeblockade und einer befürchteten amerikanischen Invasion ihren Höhepunkt erreichte, entwickelte sich am Rand der Quarantänezone, die die US-Marine um die Insel errichtet hatte, eine Art Katz-und-Maus-Spiel.

Die Amerikaner machten förmlich Jagd auf die sowjetischen U-Boote. Getauchte U-Boote in der Nähe von kampfbereiten Kriegsschiffen gelten nun einmal als inakzeptable Bedrohung. Bis zu vier US-Flugzeugträger, 32 Zerstörer sowie Dutzende Kampfflugzeuge und Hubschrauber waren im Einsatz. Immer wieder versuchten die Zerstörer, die U-Boote zum Auftauchen zu zwingen. Aufgrund ihrer Technik mussten die Foxtrots bei längerer Tauchfahrt ihren Schnorchel ausfahren, der Luft für den Verbrennungsmotor ansaugte, und konnten immer nur kurze Strecken gänzlich ohne Oberflächenkontakt unter Wasser bleiben. Luft und Energie drohten also rasch knapp zu werden, und es wurde schnell heiß an Bord, bis zu 45 Grad.

Es war ein überaus gefährliches Spiel. Die Amerikaner wussten nicht, dass die U-Boote jeweils mit einem Atomtorpedo von 15 Kilotonnen bestückt waren – und den U-Boot-Besatzungen war nicht klar, dass lediglich Übungswasserbomben und Minisprengladungen geworfen wurden und es sich nicht um ernsthafte kriegerische Angriffe handelte. Zwar setzte das Pentagon die Sowjets darüber in Kenntnis. Doch in Washington hatte man die Rechnung ohne die Nachlässigkeit der Moskauer Militärbürokratie gemacht. Die Kapitäne der sowjetischen Foxtrots wurden nicht informiert; sie ahnten auch nichts von der politischen Zuspitzung, waren sich nicht klar darüber, dass sie sich in der Nähe einer Blockadezone bewegten und von US-Zerstörern gejagt wurden. Im US-Verteidigungsministerium wiederum wusste man nicht, welches nukleare Risiko diese Jagd barg.


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mare No. 113

No. 113Dezember 2015 / Januar 2016

Von Mathias Zschaler

Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, lebt in Berlin und schreibt sowohl literarisch (unter Pseudonym) als auch journalistisch, etwa für Spiegel Online. Die Kubakrise erlebte er als Zeitzeuge, ohne allerdings damals, ebenso wie der Rest der Welt, etwas von Wassili Archipows Rolle und Bedeutung zu ahnen.

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Vita Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, lebt in Berlin und schreibt sowohl literarisch (unter Pseudonym) als auch journalistisch, etwa für Spiegel Online. Die Kubakrise erlebte er als Zeitzeuge, ohne allerdings damals, ebenso wie der Rest der Welt, etwas von Wassili Archipows Rolle und Bedeutung zu ahnen.
Person Von Mathias Zschaler
Vita Mathias Zschaler, Jahrgang 1947, lebt in Berlin und schreibt sowohl literarisch (unter Pseudonym) als auch journalistisch, etwa für Spiegel Online. Die Kubakrise erlebte er als Zeitzeuge, ohne allerdings damals, ebenso wie der Rest der Welt, etwas von Wassili Archipows Rolle und Bedeutung zu ahnen.
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